Für ihre Untersuchung zum Umgang mit Tot- und Fehlgeburt erhält Julia Böcker den Deutschen Studienpreis

Ihr Forschungsthema bereitet vielen Unbehagen: Dr. Julia Böcker untersucht in ihrer soziologischen Doktorarbeit den Umgang mit Tot- und Fehlgeburten. Für ihre Dissertation erhält die 36-Jährige im Dezember den Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung, bei dem sie den zweiten Platz im Bereich Sozialwissenschaften erreicht hat. Die Wahl-Lüneburgerin, die seit 2013 am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Leuphana Universität arbeitet, hat insgesamt sechs Jahre zu ihrem Promotionsthema geforscht, bei dem ganz verschiedene Bereiche zusammenkommen. Für ihre Arbeit sprach sie unter anderem mit Betroffenen, Hebammen und Kinderbestatterinnen, besuchte Trauerfeiern und Grabstätten. „Ich habe mich zunächst für die Trauerkultur nach dem Tod von Kindern in unterschiedlichen Ländern interessiert”, erzählt Julia Böcker. „Da war ich total naiv und dachte, es passiert hier selten, dass ein Kind stirbt, als individueller Schicksalsschlag.” Erst die Recherche im Internet und in Online-Foren für trauernde Eltern zeigte ihr, wie häufig der Verlust eines Kindes auch in Deutschland ist – nämlich während der Schwangerschaft oder unter der Geburt. Ungefähr jede sechste schwangere Frau in Deutschland hat eine Fehlgeburt, verliert ihr Kind also vor der 24. Schwangerschaftswoche oder solange es weniger als 500 Gramm wiegt. Wird ein Kind tot geboren, verstirbt im Mutterleib oder während der Geburt und hat ein Gewicht von 500 Gramm und mehr, spricht man von einer Totgeburt. „Ich hatte zunächst selbst Berührungsängste, das ist ganz normal”, erklärt Julia Böcker. Bei ihrem Themenschwerpunkt Trauerkultur nach Tot- und Fehlgeburt hatte sie zunächst an die Bestattungskultur in Deutschland gedacht. Doch das Thema erwies sich als vielschichtiger: „In den Online-Foren haben sich Betroffene für ihre Trauer gerechtfertigt, da sie in den Augen vieler eigentlich gar keine Mütter sind, kein „richtiges“ Kind verloren haben”, so ihre Beobachtung. Ein wichtiger Bereich ist auch die eigene körperliche Erfahrung, zum Beispiel ob die Tot- oder Fehlgeburt als Geburt oder Operation erlebt wird.

Personenstandsgesetz für Fehlgeborene

In ihrer Doktorarbeit nimmt Julia Böcker keine Wertung vor. Sie führt der Gesellschaft den Spiegel vor, bildet ab, wie das Thema in Deutschland wahrgenommen und wie damit umgegangen wird, eine Art Bestandsaufnahme. „Als Gesellschaft neigen wir dazu, Tot- und Fehlgeburt als hochgradig individuelle Erfahrung zu sehen”, erklärt die Autorin. „Natürlich ist jede Erfahrung individuell, aber es gibt soziale Zusammenhänge. Wir lassen die Leute damit alleine, indem wir ihnen sagen, da geht jeder individuell mit um.” Die Gesetzgebung in Deutschland spielt bei der öffentlichen Wahrnehmung des Themas eine immens wichtige Rolle. „Bis zum Jahr 2013 war es normal, dass das tote Kind mit dem Klinikabfall entsorgt wird. Erst seitdem gibt es ein Personenstandsgesetz für Fehlgeborene, das mit einem umfassenden Recht auf Bestattung verbunden ist”, erklärt die Kulturwissenschaftlerin. Seit 2013 können Eltern unabhängig vom Geburtsgewicht eine Beisetzung veranlassen. Entscheiden sie sich dagegen, würden Kliniken Föten in der Regel für Sammelbeisetzungen aufbewahren. Die Geschichten über die würdelose Entsorgung tot geborener Kinder seien vor allem bei Hebammen noch sehr präsent, so Julia Böckers Erfahrung. „Und einigen Betroffenen tut es weh, dass sie diese Möglichkeiten von heute noch nicht hatten.” Als Wiedergutmachung und Ersatzorte für die Trauer seien inzwischen viele Denkmale und Trauerorte eingerichtet worden. Durch die rechtliche Änderung, die auch in den europäischen Nachbarländern in den vergangenen zehn Jahren ähnlich umgesetzt wurde, werde der Verlust viel sichtbarer und mehr anerkannt, so Julia Böckers Erkenntnisse. „Es gab auch eine enorme Entwicklung, dass Hebammen und Ärzte Totgeburten inzwischen als Geburt oder Entbindung verstehen und begleiten.” In diesem Zusammenhang hätten sich in der Gesellschaft – genauso wie in Online-Foren – die Begriffe „Sternenkinder” und „Sterneneltern” etabliert. „Die Foren und das Internet haben wiederum einen Einfluss auf die Identität der Sterneneltern als Eltern”, so ihre Beobachtung. „Daraus haben sich Initiativen entwickelt, wie zum Beispiel solche zum Nähen von kleiner Kleidung für die Fehlgeborenen.”

 

Schweigen als Selbstschutz

Für ihre Doktorarbeit begann Julia Böcker ab 2014 mit Gesprächen – also in der Zeit nach der Gesetzesänderung. In offenen Interviews fragte sie Betroffene nach ihrer Schwangerschaft und da-rüber, wie sie ihre Tot- oder Fehlgeburt erlebt hatten. „Die Personen haben eigene Schwerpunkte gesetzt”, erklärt die Promovierte. Erfahrungen mit Kindern oder Geburten aus ihrem Umfeld hatte die heute 36-Jährige zu Beginn ihrer Untersuchung kaum. „Ich habe dazugelernt, ich war vorher ignorant”, meint sie. So habe sie auch gelernt, was man zu Müttern nach einer Tot- oder Fehlgeburt besser nicht sage. „Was man lassen sollte, sind Wiedergutmach-Floskeln – Ratschläge sind auch Schläge. Sprüche wie „Ihr seid doch noch jung, probiert’s noch mal” oder „Die Natur hat sich bestimmt was dabei gedacht” sprechen dem Verlust Bedeutung ab und rationalisieren das Geschehene, als hätte es das nicht gegeben”, meint Julia Böcker. Besser sei es, die eigene Sprachlosigkeit deutlich zu machen. „Man sollte auch nicht denken, dass die Trauer nach vier oder acht Wochen weg ist – und in Gesprächen den Namen des Kindes verwenden.” Julia Böckers Interviews zeigten auch, dass es nicht allen Müttern gut tut, mit Bekannten über ihre Erfahrungen zu reden. „Die Leute wollen aktiv der Stigmatisierung entgegenwirken und lieber nicht mehr drüber reden, das ist ein guter Selbstschutz. Es gibt außerdem klare gesellschaftliche Vorstellungen, dass eine Fehlgeburt vor der zwölften Schwangerschaftswoche normal und deshalb nicht so schlimm ist.” Auch hier habe es jedoch eine Veränderung im Umgang mit der Fehlgeburt gegeben: „Früher hatte man bis zur zwölften Woche sofort eine Ausschabung oder Absaugung. Heute kann man sich für einen „natürlichen Abgang” des Embryos entscheiden – unter Hebammen wird das als gut zur Verarbeitung angesehen.” Für ihre Untersuchung Betroffene zu finden, war für die Doktorandin einfach. „Sie waren froh, darüber reden zu können, ohne andere damit zu belasten”, so ihr Eindruck. „Die Personen sind gestärkt aus den Gesprächen gegangen.” Den Interviewpartnerinnen, die eher aus dem akademischen Bereich kamen, fiel es leichter, über das Erlebte zu sprechen – und sie zeigten sich zu Julia Böckers Überraschung sehr stark. Auch ihre Beobachtungen aus den Online-Foren ließ sie in ihre Arbeit mit einfließen. Hier teilten die Nutzerinnen besonders ihre negativsten Erfahrungen mit den anderen, wie sie feststellte.

Überraschende Erkenntnisse

In ihrer jetzt ausgezeichneten Doktorarbeit, für die sie den mit 5.000 Euro dotierten Preis im Dezember von der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas entgegennimmt, geht es Julia Böcker nicht um eine psychologische Sichtweise. Vielmehr setzt sie die Erfahrungen der Menschen in einen gesellschaftlichen Kontext. Da in der Sozialwissenschaft bisher wenige Arbeiten zum Thema Schwangerschaftsverlust existieren, ist die 36-Jährige schnell zu einer Art Expertin auf diesem Gebiet avanciert. So meldeten sich nach der Veröffentlichung ihrer Doktorarbeit bereits Personalerinnen und Unternehmensberaterinnen bei ihr, die Beratung zum Umgang mit den Themen Tot- und Fehlgeburt in Arbeitskontexten suchten.

 

Julia Böcker gewann bei ihrer Forschung auch überraschende Erkenntnisse. „Mich hat überrascht, wie unterschiedlich Leute ein Kind und menschliches Leben definieren, für sich selbst und bei anderen”, erzählt sie. Auch die Trauergefühle bei einem unerfüllten Kinderwunsch erstaunten sie: „Dieser Verlust wird nicht gesehen, dabei fühlen sich Betroffene so ähnlich wie Menschen, die ein Kind verloren haben.” Während der Forschung für ihre Doktorarbeit bekam Julia Böcker zwei Kinder. Da sie sich schon lange mit der Thematik befasste, war es für sie selbstverständlich, die Themen Tot- und Fehlgeburt bei ihren Frauenärztinnen anzusprechen. „Ich hätte es komisch gefunden, nicht darüber zu sprechen, aber sie wollten darüber nicht reden. Sie haben das Thema schnell abgeschüttelt, das fand ich symptomatisch”, erinnert sie sich. Ihre Erlebnisse deckten sich mit der Erfahrung der von ihr befragten Eltern, die der Meinung waren, Ärzte könnten nicht über dieses Thema kommunizieren. Für ihre Untersuchung hatte sie nicht mit Medizinern gesprochen und sich bewusst auf die Sichtweise von Betroffenen beschränkt. Im April 2021 hatte Julia Böcker die Verteidigung, die mündliche Prüfung zu ihrer Doktorarbeit. Da sie zu diesem Zeitpunkt hochschwanger war, wurde sie gefragt, ob ihr das Thema in ihrer Situation Probleme bereite. „Ich habe sechs Jahre dazu geforscht und kann darüber sprechen, ohne dass es mich zu sehr emotional beschäftigt”, meint sie dazu. „Es hat aber für mich eine Rolle gespielt, dass ich erst meine Arbeit abgeben und dann mein zweites Kind bekommen wollte. Falls es zur Fehlgeburt gekommen wäre, hätte ich sie vielleicht nicht fertigschreiben können. So hat die Arbeit doch mein Leben verändert.” (JVE)

Foto: Körber-Stiftung/David Ausserhofer

 

Der unsichtbare Verlust
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