Essstörungen sind mehr als ein Proble mit der Nahrungsaufnahme

18 Uhr in Lüneburg. In vielen Familien wird jetzt das Abendbrot serviert. Es gibt frisches Brot mit Wurst, Käse und Gemüse. Doch bei der 17-jährigen Caro sieht der Abend anders aus. Vor ihr steht eine Schüssel Salat, unberührt, während sie die Minuten auf ihrem Handy herunterzählt. Neun Minuten, bis sie einen Bissen nehmen darf. In ihrem Kopf kreisen Gedanken um Kalorien, ums Schlanksein und um das schlechte Gewissen, das selbst eine etwas größere Tomate auslöst. Noch fünf Minuten – diese Zeit verbringt sie auf der Rudermaschine, minus 40 Kalorien.

Essstörungen
haben viele Gesichter

Caro leidet unter einer Essstörung, genauer gesagt unter Anorexie. Ihr BMI liegt bei 15,1, die Rippen treten deutlich hervor, doch sie sind verborgen unter weiter Kleidung. Die sogenannte Magersucht geht mit einem extremen Gewichtsverlust einher, einer intensiven Angst vor Gewichtszunahme und einem verzerrtem Körperbild. Betroffene wie Caro beschränken ihre Nahrungsaufnahme stark, um ein niedriges Körpergewicht zu erreichen und zu halten.

Doch Essstörungen haben viele Gesichter. Bulimia nervosa, auch bekannt als Ess-Brech-Sucht, ist eine weitere Form. Hierbei kommt es zu regelmäßigen Essanfällen, gefolgt von selbst herbeigeführtem Erbrechen, Fasten, exzessivem Sport und Missbrauch von Medikamenten wie Abführmitteln, um eine Gewichtszunahme zu verhindern. Anders als bei Anorexie ist bei Bulimie das Körpergewicht oft normal oder leicht über dem Durchschnitt, was die Störung noch weniger sichtbar macht. Eine dritte, häufig missverstandene Form ist das Binge-Eating, charakterisiert durch wiederkehrende Episoden von Essanfällen, bei denen große Mengen an Nahrung in kurzer Zeit konsumiert werden, oft verbunden mit einem Gefühl des Kontrollverlusts. Dies kann zu Übergewicht und damit verbundenen Gesundheitsproblemen führen.

Komplexe psychische Erkrankung

Essstörungen sind mehr als nur ein Problem mit der Nahrungsaufnahme. Sie sind kein Tick von Teenagern, die einem Ideal nacheifern. Sie sind keine Diät. Sie sind komplexe psychische Erkrankungen. Betroffene erleben oft Gefühle der Scham, Isolation und Angst. Die Gründe für die Entwicklung einer Essstörung sind vielfältig und reichen von genetischen Faktoren über psychische Belastungen bis hin zu kulturellen und sozialen Einflüssen.

Wie groß ist das
Problem in Deutschland?

Die Häufigkeit von Essstörungen ist ein alarmierendes Thema, das sowohl Frauen als auch Männer betrifft, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Unter den drei Hauptformen der Essstörungen ist die Binge-Eating-Störung am weitesten verbreitet, gefolgt von Bulimie und schließlich der bekanntesten Form, der Magersucht. Studien zeigen, dass von 1.000 Mädchen und Frauen etwa 28 im Laufe ihres Lebens an einer Binge-Eating-Störung, 19 an Bulimie und 14 an Magersucht erkranken. Bei Jungen und Männern sind die Zahlen geringer, aber dennoch signifikant: Von 1.000 erkranken durchschnittlich etwa zehn an Binge-Eating, sechs an Bulimie und zwei an Magersucht. Darüber hinaus sind Mischformen von Essstörungen, die nicht genau in die Diagnosekriterien für Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating passen, mindestens genauso häufig wie diese „Reinformen”. Diese Zahlen, basierend auf internationalen Studien, veröffentlicht auf der Seite der BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung), unterstreichen die Dringlichkeit, Essstörungen als ernsthafte und weit verbreitete Gesundheitsprobleme zu erkennen und zu behandeln.

Den Ernst der Lage erkennen

Die Unterstützung von Angehörigen ist ein Schlüsselelement im Umgang mit Essstörungen. Es beginnt mit dem Informieren und dem Verständnis der Erkrankung, um die Betroffenen besser zu verstehen und angemessen zu reagieren. Gesprächsangebote sind wichtig, doch sollten ohne Druck erfolgen, wobei manchmal nonverbale Gesten wie eine Umarmung ebenso wertvoll sein können. Kommentare über Aussehen und Gewicht sind zu vermeiden, da sie bei Betroffenen zu negativen Reaktionen führen können. Angehörige sollten ebenfalls auf ihre eigenen Gefühle achten und bei Bedarf Unterstützung für sich selbst suchen. Die Genesung von Essstörungen ist oft ein langwieriger Prozess, daher sind langfristige Unterstützung und Geduld entscheidend. Neben der Inanspruchnahme professioneller Hilfe können auch Online-Foren, Selbsthilfegruppen, Informationsbroschüren und Workshops wertvolle Ressourcen sein, um Betroffenen und Angehörigen Unterstützung zu bieten.

 

Die Behandlung von Essstörungen erfordert einen ganzheitlichen Ansatz. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet unter bzga-essstoerungen.de Hilfestellungen und Informationen. Zudem gibt es die Möglichkeit, sich telefonisch oder online beraten zu lassen – auch anonym. Die Berater geben erste Informationen und Denkanstöße. Sie unterstützen Betroffene und Angehörige kostenlos und unverbindlich bei der Suche nach einer persönlichen Beratung vor Ort. Und sie unterliegen der Schweigepflicht. Doch der erste Schritt kann auch der Gang zum Hausarzt, zum Gesundheitsamt oder zu einem ambulanten Psychotherapeuten sein. Krankenkassen bieten ihren Mitgliedern ebenfalls Hilfe an, auch präventiv. Wichtig ist, dass das Problem erkannt, akzeptiert und angegangen wird.

Hilfe für Kinder und Jugendliche

In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPP) der Psychiatrischen Klinik Lüneburg (PKL) gibt es eine Jugendlichenstation mit dem Schwerpunkt Psychosomatik, die auf die Behandlung von Essstörungen spezialisiert ist. Erste Ansprechpartner für hilfebedürftige Jugendliche und deren Eltern oder Bezugspersonen sind die Praxen der Kinder- und Jugendärzte. „Auf unserer Station sind elf bis zwölf Jugendliche im Alter von 13 bis 17 Jahren mit unterschiedlichen Störungsbildern, die ihren Alltag zusammen gestalten“, so Oberärztin Dr. Ursula Schild. „Es gibt bei uns ein offenes Miteinander, wir sind zugewandt und aktiv. Bei Schwierigkeiten oder Problemen haben die Jugendlichen immer ihre persönlichen Ansprechpartner.“ Zum therapeutischen Stationsangebot gehören Musik-, Ergo- und Bewegungstherapie, Wahrnehmungstraining, Soziales Kompetenztraining, Progressive Muskelentspannung, Yoga, Akupunktur sowie Ernährungstherapie und -beratung. Alle Jugendlichen haben ihre eigenen behandelnden Therapeuten und Bezugsbetreuer aus dem Pflege- und Erziehungsdienst. Diese Bezugsbetreuer begleiten die Jugendlichen Schritt für Schritt durch die Therapie – von der Aufnahme bis zur Entlassung. Sie nehmen auch an Eltern- und Jugendamtsgesprächen teil und unterstützen die Jugendlichen so gut wie möglich. „Wir behandeln Essstörungen bei Jugendlichen ganzheitlich und schauen uns an, wie diese entstanden sind. Gleichzeitig unterstützen wir bei anorektischen Erkrankungen von Beginn an den dringend notwendigen Gewichtsaufbau. Hierfür haben wir einen Stufenplan entwickelt, mit dessen Hilfe die Jugendlichen Anreize zur Gewichtszunahme in gesündere Bereiche bekommen. Oftmals haben die Jugendlichen neben der Essstörung noch eine zusätzliche psychische Erkrankung, die in das individuelle therapeutische Konzept eingebunden wird“, erläutert Dr. Schild. Essstörungen sind eine Herausforderung, die uns alle angeht – sei es als Betroffene, Angehörige oder als Teil einer Gesellschaft, die zunehmend sensibilisiert wird. Caros Geschichte, wenngleich fiktiv, spiegelt die Realität vieler wider. Es ist eine Realität, die durch Aufklärung, Unterstützung und Empathie verändert werden kann. (AW)

Foto: pexels

Wenn Essen krank macht
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