Die Welt ist laut, voll von Geräuschen, Stimmen, Hupen, klingelnden Handys und Musik. Doch wie sieht sie aus, wenn plötzlich Stille herrscht? Eine Stille, die nicht freiwillig gewählt, sondern alltägliche Realität ist. Gehörlose Menschen leben in dieser Stille, einer Welt, die viele von uns nicht kennen – oder oft ignorieren. Gehörlose Menschen werden buchstäblich überhört. Dabei gibt es viel über sie zu lernen und zu verstehen.
Ich bin ich und du bist du
„Die Leute haben Berührungsängste“, sagt Nina Meier, die als hörende Koordinatorin seit vielen Jahren an einer Schule für schwerhörige und gehörlose Kinder arbeitet. Ihr liegt es besonders am Herzen, Menschen zu helfen und Barrieren abzubauen. „In der Öffentlichkeit bleiben die Menschen oft stehen, wenn sie uns gebärden sehen, und sagen dann, sie würden das gerne auch mal lernen – tun es aber nicht.“ Warum? „Weil sie Angst haben. Sie wissen nicht, wie sie mit uns kommunizieren sollen“, erklärt sie. Diese Unsicherheit führt dazu, dass viele Menschen lieber ausweichen, statt sich auf die Kommunikation mit Gehörlosen einzulassen. Dabei gibt es so viele Möglichkeiten, Barrieren abzubauen. Zum Beispiel lernen alle Kinder an Ninas Schule – auch Kinder, die hören können – ganz selbstverständlich, von Anfang an zu gebärden. „Egal, mit wem man spricht, man gebärdet immer – das gehört einfach dazu, damit sich niemand ausgeschlossen fühlt“, sagt sie. Und wenn schwerhörige oder gehörlose Kinder später in normale Schulen für Hörende wechseln, gibt es immer einen Dolmetscher an ihrer Seite, um zu übersetzen. „Viele von ihnen studieren später oder machen eine Ausbildung – genau wie alle anderen auch.“
Alltag in Stille – und doch so lebendig
Ein Beispiel aus Lüneburg zeigt, wie es funktionieren kann: Eine Tierarztpraxis hat eine gehörlose Auszubildende eingestellt. Es gab immense bürokratische Hürden, und die Behörden haben den Prozess nicht gerade leicht gemacht. „Aber die Praxis wollte diese Auszubildende unbedingt – sie war die beste Kandidatin und hat es verdient, die Chance zu bekommen“, erzählt Nina. Heute arbeitet die junge Frau erfolgreich in der Praxis und ist vollständig in den Betrieb integriert. Ein tolles Beispiel dafür, dass Inklusion möglich ist – wenn man sie will.
Doch nicht alle gehörlosen Menschen haben so viel Glück. In kleineren Städten wie Lüneburg gibt es wenig Angebote für Gehörlose, was sie oft dazu bewegt, in Großstädte zu ziehen, wo es mehr Schulen, Dolmetscher und eine stärkere Gemeinschaft gibt. Der Gehörlosenverein in Lüneburg, bei dem Dirk Burmester als zweiter Vorsitzender tätig ist, versucht, diesen Menschen ein Stück Heimat zu bieten. Sie organisieren regelmäßig Veranstaltungen, darunter Kochabende, Sommerfeste und Motto-Partys, um die Gemeinschaft zu stärken. Es ist ein Ort, an dem sich Gehörlose austauschen und sich in ihrer Muttersprache unterhalten können – in einer Welt, die sie sonst oft überhört.
Die Gebärdensprache – eine eigene Welt
Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist eine eigenständige Sprache mit eigener Grammatik und Struktur – sie hat nichts mit der deutschen Lautsprache gemein. Dabei geht es nicht nur um die Hände, sondern um den gesamten Oberkörper, Mimik und Gestik. Die Kommunikation erfolgt mit ausdrucksstarken Bewegungen, und das Gesicht ist ein zentrales Element. Wer gebärdet, „spricht“ mit seinem ganzen Körper.
Interessanterweise gibt es innerhalb Deutschlands sogar verschiedene Dialekte in der Gebärdensprache. Nina Meier erzählt: „Mein Mann kommt aus Baden-Württemberg und hat einen deutlichen Dialekt, auch wenn er gebärdet.“ Das ist vergleichbar mit regionalen Unterschieden in der Lautsprache – ein witziger Aspekt, der zeigt, wie lebendig und vielfältig die Gebärdensprache ist.
Trotz ihrer Komplexität kann sie von jedem erlernt werden. Sie zu beherrschen, eröffnet eine neue Art der Kommunikation, die über das Hören hinausgeht. Sie ermöglicht es, sich über Entfernungen hinweg zu verständigen, unter Wasser, durch Scheiben oder in Situationen, in denen man leise sein muss, wie etwa in einer Kirche oder an lauten Orten wie im Club. Nina betont, dass alle davon profitieren könnten, wenn mehr Menschen Gebärdensprache lernen würden – besonders ältere Menschen, die im Alter oft schwerhörig werden.
Missverständnisse und Chancen
Ein häufiges Missverständnis ist, dass Gehörlose Lippenlesen könnten. In der Realität ist das jedoch sehr begrenzt – nur etwa 30 Prozent der gesprochenen Sprache sind tatsächlich über die Lippen lesbar. Die restliche Kommunikation erfolgt durch Gebärden, die den ganzen Körper einbeziehen. Viele Hörende finden diese Art der Kommunikation faszinierend, sind aber gleichzeitig unsicher, wie sie auf Gehörlose zugehen sollen.
Dirk Burmester sieht diese Unsicherheit als große Herausforderung. Er berichtet, dass viele hörende Menschen nicht wissen, wie sie auf Gehörlose zugehen sollen und die Barriere dadurch bestehen bleibt. Er selbst bemüht sich, geduldig und langsam mit hörenden Menschen zu sprechen, um ihnen die Scheu zu nehmen. Doch er hofft, dass künftig mehr Menschen Gebärdensprache lernen, um die Kommunikation zu erleichtern und die Barrieren zu durchbrechen.
Gebärdensprache lernen ein erster Schritt
Die Möglichkeiten, Gebärdensprache zu lernen, sind vielfältig: Viele Volkshochschulen bieten Kurse an, die einen Einstieg in die Gebärdensprache ermöglichen. Auch auf YouTube gibt es zahlreiche Videos, mit denen man die ersten Gebärden erlernen kann. In dieser Reportage sind zudem einige Fotos von alltäglichen Gebärden beigefügt – kleine Schritte, um die Welt der Gehörlosen besser zu verstehen. Wenn mehr Menschen Gebärdensprache lernen würden, könnte das nicht nur die Inklusion verbessern, sondern auch Türen für neue Arten der Kommunikation öffnen. (AW)
Foto: Anika Werner