Annetraud Grote ist Niedersächsische
Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung
nnetraud Grote hat sich in ihrem Leben schon vielen Herausforderungen gestellt. Mit einer körperlichen Behinderung geboren und auf die Nutzung eines Elektro-Rollstuhls angewiesen, führt die 57-Jährige ein sehr ausgefülltes Leben – privat wie beruflich. Seit März 2024 ist die gebürtige Barnstedterin als Niedersächsische Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen tätig.
Als Annetraud Grote 1967 im ländlichen Barnstedt, 15 Kilometer von Lüneburg entfernt, mit einer sichtbaren Gelenkfehlbildung an Armen und Beinen zur Welt kam, steckte die Inklusion in Deutschland noch in den Kinderschuhen – und wurde doch oft auf eine selbstverständliche Art und Weise gelebt. Annetraud Grote wurde als jüngstes von vier Kindern geboren. „Meine Eltern wollten mir das Gleiche ermöglichen wie meinen Geschwistern”, erinnert sie sich. Deshalb sei die Wahl der Schule keine Frage gewesen: Sie besuchte die Grundschule in Melbeck und ging danach auf die Wilhelm-Raabe-Schule in Lüneburg – wie ihre Schwester.
„Ich sollte nach dem Wunsch meiner Eltern auf eine Regelschule gehen”, erzählt Annetraud Grote. „Die Direktoren meiner Schulen hatten den Mut, mich aufzunehmen. Der Amtsarzt hat das nicht so befürwortet.” Während ihre Grundschule in Melbeck noch ebenerdig war, waren die oberen Etagen im alten Gebäude der Lüneburger Wilhelm-Raabe-Schule damals noch nicht mit dem Fahrstuhl zugänglich. Doch man fand eine Lösung: Annetraud Grotes Klassenzimmer war im Erdgeschoss, und wenn sie die Fachräume in den oberen Etagen erreichen wollte, trugen die älteren Schülerinnen und Schüler sie in einem Treppenstuhl nach oben. „Dieses Amt wurde immer den Schülern der älteren Jahrgänge übertragen, bis die Mitschüler aus meinem Jahrgang mich tragen konnten”, erinnert sie sich. Eine Assistenz hatte sie während des Schultages nicht, in den Pausen halfen ihr Mitschüler. Eine Schülerin mit Behinderung war an dem Lüneburger Gymnasium damals eine totale Ausnahme – und für alle eine Bereicherung, wie sie aus Gesprächen weiß: „Meine Mitschüler sagen mir heute noch, wie wichtig diese Erfahrung für sie war. Ich hatte keinen Sonderstatus, das war sehr schön. Diese Schule hat mich sehr geprägt.”
Wie viele andere Kinder hatte auch Annetraud Grote das Schreiben schon vor der ersten Klasse gelernt. „Meine Eltern hatten ein Gasthaus, da waren einige Gäste Lehrer. Sie haben mir gezeigt, wie ich mit meinen Händen schreiben kann – eine Hand führt die andere. So habe ich das schon vor der Schule gelernt”, erzählt sie.
„Nichts über uns ohne uns”
Nach dem Abitur im Jahr 1987 machte Annetraud Grote ihre erste ernüchternde Erfahrung als Mensch mit sichtbarer Behinderung: „Ich wurde beim Arbeitsamt auf meine Behinderung reduziert. Man sagte mir, ichkönne entweder Psychologie oder Jura studieren. Man hatte da wenig Phantasie.” Zwar wäre sie damals gerne Medizinerin oder Lehrerin geworden, doch ihre eingeschränkte Fähigkeit, zum Beispiel an eine Tafel zu schreiben, wurde als Hindernis gesehen. Die junge Frau entschied sich für Jura – in einer anderen Stadt. Sie ging nach Marburg, wo sie in einem Studentenwohnheim für Menschen mit und ohne Behinderungen wohnte. „Ich habe mich durch Jura gekämpft und war total glücklich damit. Ich habe in Marburg großartige Menschen kennengelernt – auch meinen Mann. Das war eine tolle Zeit, ich habe viel erlebt und gefeiert.” Dass sie den Sprung von zu Hause weg gewagt hat, hat sie nie bereut, auch wenn das für sie ein harter Einschnitt war. „Ich musste viele Grenzen überwinden. Die Uni in Marburg war zwar relativ barrierefrei und es war alles gut zugänglich, aber natürlich hat da auch mal ein Aufzug nicht funktioniert.” Erst an der Universität habe sie andere Menschen mit Behinderungen kennengelernt, berichtet Annetraud Grote, die nach ihren Examina und ihrem Referendariat wieder beim Arbeitsamt landete. Einem glücklichen Zufall verdankte die fertige Juristin mit dem Fachgebiet Arbeits- und Sozialrecht ihre erste Arbeitsstelle im Rechtsreferat des Paul-Ehrlich-Instituts im hessischen Langen – wo sie zehn Jahre blieb. Später wechselte sie ins Personalreferat und war schließlich stellvertretende Personalleiterin. Am Paul-Ehrlich-Institut, wo sie insgesamt 26 Jahre tätig war, befasste sie sich nicht nur mit verwaltungsrechtlichen und personalrechtlichen Aufgaben, sondern engagierte sich regelmäßig bei Projekten für Inklusionsthemen.
An einen Arbeitsplatzwechsel dachte Annetraud Grote lange Zeit nicht, sie war glücklich in Langen. Doch als sie die Stellenausschreibung für die Niedersächsische Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen sah, fühlte sie sich sofort angesprochen. „Ich fühle mich Niedersachsen immer noch sehr verbunden. Und ich hatte bei der Stellenbeschreibung das Gefühl, es trifft alles auf mich zu”, erzählt die 57-Jährige. Im Mai 2023 bewarb sie sich auf den Posten. Nach einem langen Bewerbungsprozess hatte sie die Stelle, in die sie im November 2023 von der Niedersächsischen Landesregierung berufen wurde. Sie musste sich von ihrer alten Stelle verabschieden und zog mit ihrem Mann nach Hannover, wo sie seit März 2024 als Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen arbeitet.
Annetraud Grote und ihr Arbeitsstab sind dem Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung zugeordnet. Ihre Aufgaben stehen im Niedersächsischen Behindertengleichstellungsgesetz (NBGG), dessen letzte Änderung im Januar 2024 in Kraft getreten ist und nach dem sie in der Wahrnehmung ihres Amtes unabhängig ist. Die Juristin berät die Landesregierung in allen Fragen zum Thema Inklusion, Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Bei Gesetzes-, Verordnungs- und sonstigen Vorhaben beteiligen alle niedersächsischen Ministerien und die niedersächsische Staatskanzlei sie, wenn diese die Zielsetzung des NBGG betreffen. Da Inklusion und Teilhabe Querschnittsthemen aller Politikbereiche sind, arbeitet die Landesbeauftragte ressort- und abteilungsübergreifend. Es ist ihr ein wichtiges Anliegen, mit Verbänden, Selbsthilfeorganisationen, Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen, Unternehmen, der Wissenschaft, der Verwaltung sowie der Politik und vielen weiteren Akteurinnen und Akteuren zusammenzuarbeiten. So sollen ganz nach dem Motto „nichts über uns ohne uns” Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen von vornherein in Gremien und bei Vorhaben der Landesregierung beteiligt sein.
„Hüterin der Gesetze”
Neben den Aufgaben als „Hüterin der Gesetze”, wie sie es selbst beschreibt, ist ein großer Bereich ihrer Tätigkeit der Vorsitz im Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen (LBBR). 20 weitere Mitglieder gehören dem Landesbeirat an, dazu gehören Landesverbände wie der Sozialverband VdK oder die Lebenshilfe, aber auch kleinere Verbände für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungsarten. Außerdem organisiert Annetraud Grote den Niedersächsischen Inklusionsrat von Menschen mit Behinderungen (NIR), dem freiwilligen Zusammenschluss von Beiräten oder vergleichbaren Gremien und Beauftragten für Menschen mit Behinderungen von Kommunen. Zudem ist sie in vielen weiteren Gremien Mitglied. Als Landesbeauftragte setzt sich Annetraud Grote für die Belange von Menschen mit Behinderungen ein und wirkt darauf hin, dass Inklusion in der Gesellschaft noch mehr Umsetzung findet. Ihr erklärtes Ziel ist es, den menschenrechtlichen Aspekt von Inklusion noch mehr zu verankern und die Haltung zu Menschen mit Behinderungen hinsichtlich der Teilhabe im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu verbessern. „Die UN-BRK ist seit 15 Jahren in Kraft. Es gab eine Staatenprüfung, und Deutschland ist noch lange nicht weit genug”, berichtet Annetraud Grote, die durchaus Fortschritte im Land Niedersachsen sieht: „Wir haben bereits einiges im Bereich Schule erreicht, indem jede Schule laut Schulgesetz eine inklusive Schule sein sollte. Auch laufen zum Beispiel die Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen aus. Aber es gibt auch viele Punkte, wo wir noch viel lernen müssen.”
Auch bei der Gestaltung und Umsetzung des Niedersächsischen Aktionsplans Inklusion der Landesregierung wirkt Annetraud Grote aktiv mit. Dieser enthält 97 Maßnahmen, die sich die Landesregierung in den kommenden vier Jahren zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vorgenommen hat. Eine Maßnahme, an der die Landesbeauftragte beispielsweise arbeitet, ist für eine bessere Vernetzung auf Landesebene die Gründung einer Landesarbeitsgemeinschaft für Frauenbeauftragte in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. „Das ist ein großer Schritt. Es ist wichtig, dass die Initiative von den Frauenbeauftragten selbst ausgeht – es haben sich viele eingebracht”, meint Annetraud Grote.
Vernetzung mit Politik und Institutionen
Die Vernetzung mit Politik und Institutionen ist auf ihrem Posten das A und O. „Ich habe seit meinem Dienstbeginn im März etwa 2.000 Menschen kennengelernt”, schätzt sie. Oft arbeitet sie viel, auch an den Abenden und am Wochenende. Für einen privaten Ausgleich sorgt sie, indem sie schwimmen geht oder mit ihrem Mann EMS-Training im Fitnessstudio macht. In ihrer alten Heimat bei Lüneburg ist sie fast jedes Wochenende, trifft Freunde und Familie, liebt die Umgebung und die Natur. „Ich bin unglaublich gerne mit dem E-Rollstuhl alleine in der Natur unterwegs, und auch im Dorf Barnstedt mischen wir mit”, erzählt sie.
An ihrer Arbeit hat Annetraud Grote großen Spaß. Natürlich hat die Landesbeauftragte auch Anliegen, die ihr persönlich sehr am Herzen liegen. Dazu gehören Maßnahmen, die zur Bewusstseinsbildung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen beitragen. „Es sind Aktionen wichtig, um Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu bringen. Zum Beispiel muss das Budget für Arbeit bekannter gemacht werden, das 2008 in Niedersachsen auf den Weg gebracht wurde und Menschen aus den Werkstätten in den allgemeinen Arbeitsmarkt bringen soll.” Sie ergänzt: „Ich möchte etwas bewegen für andere Menschen. Menschen mit Behinderungen können genauso leistungsfähig sein wie Menschen ohne Behinderungen. Es ist wichtig, sie in Lohn und Brot zu bringen. Wir brauchen sie, aber sie haben auch Verpflichtungen.” Es sei dabei wichtig, Menschen mit Behinderungen auf Augenhöhe zu begegnen. Das habe sie in ihrem Leben bisher auch immer so erlebt, „aber ich bin ja auch laut”, fügt sie hinzu. Sie selbst habe ihre Behinderung nie als Defizit empfunden. „Sie ist normal für mich, und das will ich weitergeben. Mit den richtigen Rahmenbedingungen können Menschen mit Behinderungen ein ausgefülltes Arbeits- und Privatleben führen.” (JVE)
Foto: Tom Figiel