
Immer mehr Menschen greifen zum Stift und schreiben über ihr Leben – für sich selbst, für andere oder beides. Hier erzählen drei von ihnen, warum sie das tun.
Erinnerungen tauchen meist völlig unvermittelt auf: ein Geruch, ein Stichwort, ein Foto, ein Gefühl oder ein Satz, den mal jemand gesagt hat und der ein Lebensbegleiter geworden ist. All das können Zugänge zu Erinnerungen sein, die wir längst vergessen zu haben scheinen. „Müsste man mal aufschreiben“, denkt man dann vielleicht.
Über sein Leben zu schreiben kann ein Weg sein, sich selbst auf die Spur zu kommen. „Ich schreibe, um mich selbst noch besser zu verstehen und daraus noch mehr zu lernen“, sagt Michael Skinley aus Schatensen. Der 76-Jährige schreibt seit mehr als 20 Jahren. Über Kindheitserinnerungen, Erlebnisse, Erfolge und Scheitern. Michael wünscht sich, dass der Rückblick auf Episoden seines Lebens nicht nur ihm selbst, sondern auch anderen Menschen Orientierung bietet. Der gebürtige Engländer hat keine Kinder, denen er seine „Memoiren“ hinterlassen könnte. „Damit aber andere vielleicht etwas aus meinen Erfahrungen und Fehlern lernen können, möchte ich meine Texte irgendwann veröffentlichen. Ich möchte andere motivieren, etwas zu tun.“
Jedes Leben ist erzählenswert
Über die eigene Herkunft zu schreiben, auch wenn man ein gespaltenes Verhältnis zu ihr hat, erfordert Mut. Denn Erinnerungen sind so eine Sache: Sie können trügen und lügen, können Trost spenden, aber auch weh tun. Trotzdem möchte Michael auch andere Menschen zum Schreiben ermutigen. Denn jedes Leben ist erzählenswert. Niemand sieht die Welt wie der andere. Erinnerungen an dieselbe Begebenheit sind nie gleich. Und doch hilft es, einander zu verstehen.
Es gibt also viele Gründe, die Erinnerungen aus der eigenen Schatzkiste herauszuholen und zu betrachten. Nicht immer sind wir uns dessen bewusst, was in unserem Kopf an Erinnerungen enthalten ist. Doch wie kommt man ihnen auf die Spur? Wie findet man Zugang zu Erinnerungen? Einfach losschreiben, rät die Autorin und Regisseurin Doris Dörrie in ihrem Buch „Leben, schreiben, atmen – eine Einladung zum Schreiben“. Um mit dem Schreiben zu beginnen, braucht es nicht viel. Nicht mal Zeit. Keine Zeit haben ist also kein Argument. Denn zehn Minuten reichen.
Ein Stichwort –
viele Assoziationen
Oft genügt ein Stichwort, ein Gegenstand, eine Person – und die Assoziationen fließen: So schlägt die Autorin zum Beispiel vor: „Schreib über das Essen Deiner Kindheit“. Jeder, wirklich jeder Mensch hat dazu etwas zu erzählen. Und wenn man erstmal losschreibt, tauchen Erinnerungen auf, von denen man nicht wusste, dass sie noch da sind: Der dicke Milchreis, den nur Oma genauso kochte und der im Topf unter der Daunenbettdecke weiterquoll. Der Geruch nach Zimt und brauner Butter. Oma, die in der Erinnerung nie mit am Tisch saß, sondern immer in den Töpfen rührte oder unter dem Herd Holz nachlegte. Die tiefen Teller mit den blauen Blumen. Alle unterschiedlich und angeschlagen…
Man schweift ab, kommt vom Hundertsten in Tausendste, die Erinnerungen fließen und werden immer lebendiger. Und genau das macht das Autobiografische Schreiben so wertvoll. Und gleichzeitig so schwierig. Denn in der Schule lernten wir: Beim Thema bleiben, auf Rechtschreibung achten, ordentlich und sauber schreiben, den roten Faden behalten!
Keine Angst
vor dem leeren Blatt
Die Angst, den Faden zu verlieren, beschäftigte auch Hermann Holst aus Holthusen I. „Meine Familie hat mir einmal ein leeres Büchlein geschenkt, damit ich Erinnerungen aufschreibe. Aber ich habe mich noch nicht herangewagt.“ Hermann (79) und seine Frau haben vier Kinder, kümmern sich um die Enkelkinder, leisten Erstaunliches. Doch beim Anblick des Büchleins kam bei Hermann regelmäßig die uralte Angst vor dem leeren Blatt hoch. Und die Frage: Wo fange ich an?
Bei einem Schreibworkshop lernte er, dass es beim Autobiografischen Schreiben nicht unbedingt auf Chronologie ankommt. Und dass Erinnerungssplitter mitunter mehr über jemanden aussagen als ein linearer Lebenslauf mit Jahreszahlen: Begegnungen, Personen, Dinge, Orte, die einen prägten. Wie hat man sich gefühlt, was hat man gedacht? Der eigene Blick auf die Welt, die Beschreibung der eigenen Perspektive kann Angehörigen helfen, die Eltern oder Großeltern noch besser zu verstehen.
„Mir hilft es schon mal zu wissen, dass ich nicht chronologisch vorgehen muss“, sagt Hermann und beginnt sein Heft zu füllen. Er berichtet von seinem Schulweg im Winter, beschreibt die Eisblumen am Fenster und wie er ein Loch hingehaucht hat, damit er nach draußen schauen kann. „Mir fallen noch so viele Dinge ein. Das ist wie eine Kettenreaktion“.
Keine Frage des Alters
Autobiografisches Schreiben ist keine Frage des Alters. Auch Wilhelm Warnecke kam kürzlich bei einem Schreibworkshop zum ersten Mal mit dem Autobiografischen Schreiben in Berührung. „Ich wollte im neuen Jahr mal etwas ganz Neues ausprobieren“, erzählt der 46-Jährige. Sein Fazit: „Über das Schreiben kam ich mit mir selbst und meiner Lebendigkeit in Kontakt. Zum anderen war der Austausch in der Gruppe für mich sehr bereichernd.“
Auch wenn niemand seine autobiografischen Texte mit anderen teilen muss, so ist es doch sehr wertvoll, es zu tun. Denn beim Schreiben beziehungsweise Vorlesen entsteht Resonanz. Zu wissen, dass andere Menschen ähnliche Erfahrungen gemacht, ähnlich gefühlt und gehandelt haben, verbindet. Man stellt Gemeinsamkeiten fest. Und wird mal wieder daran erinnert, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt. Und dass es immer auch auf die Perspektive ankommt. (AH)
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