Erwachsene mit ADHS

An einem Morgen sitzt Anna in ihrem Büro, umgeben von einem Wirrwarr an Papieren und zig offenen Tabs auf ihrem Computer. Sie versucht, sich auf einen Bericht zu konzentrieren, doch ihre Gedanken springen von einer Idee zur nächsten. Neben ihr vibriert das Handy, ein weiterer Reiz, der um ihre Aufmerksamkeit buhlt. Auf irgendeinem Tab im Browser wird laut ein Video abgespielt. Hektisch versucht sie, den Störer ausfindig zu machen, bleibt an einem Rezept hängen, für das sie heute einkaufen muss, als ihr Kollege in den Raum platzt und sie zum nächsten Meeting abholen möchte. Wo nur hat sie die Präsentation gespeichert?

Dieses Szenario ist für viele Erwachsene mit ADHS alltäglich. „Wie ein ständig suchendes Objektiv auf einem Kugelgelenk, das versucht, jede Bewegung, jeden Ton einzufangen, unfähig, sich auf eine Sache zu fokussieren“, beschreibt Anna ihr Chaos im Kopf.

Orchester ohne Dirigent

Stellt man sich das Gehirn einer Person mit ADHS als ein Orchester vor, fehlt hier der Dirigent. Die Musiker, also die Gedanken und Impulse, legen eigenmächtig los. Ohne jemanden, der den Takt angibt, folgt jedes Instrument seiner eigenen Melodie, was in einer chaotischen Symphonie resultiert, bei der jedes noch so kleine Solo nach Vorrang strebt. In der Neurologie spielen Botenstoffe die Rolle des Dirigenten. Sie sind für das Weiterleiten der Signale von einer Nervenzelle zur nächsten verantwortlich. Das Dilemma bei ADHS ist, dass diese wichtigen „Dirigenten” – sprich die Botenstoffe – nicht in genügender Anzahl vorhanden sind. Das führt dazu, dass die Kommunikation im Gehirn etwas aus dem Ruder läuft, so dass Gedanken und Impulse ohne eine klare Richtung oder Koordination durcheinanderwirbeln.

Brille fürs Gehirn

Medikamente, die Methylphenidat enthalten, wie Ritalin oder Medikinet, werden in der Behandlung von ADHS eingesetzt, um die Informationsübertragung im Gehirn zu verbessern. Obwohl die Sorge besteht, dass solche Medikamente die Persönlichkeit verändern könnten, berichten viele Betroffene stattdessen von einem Leben, das durch weniger Zerstreutheit und eine verbesserte Fähigkeit, Herausforderungen zu meistern, gekennzeichnet ist. Sie sind wie eine Brille für das Gehirn – sie machen die Welt klarer, ohne das Bild zu verzerren.

Keine Kinderkrankheit

Lange herrschte die Annahme, ADHS sei eine Phase, die sich mit dem Ende der Kindheit verliert. Diese Sichtweise hält der Realität nicht stand. Millionen Erwachsene in Deutschland leben mit ADHS und meistern täglich die Balance zwischen Berufsleben, persönlichen Beziehungen und Selbstmanagement. Ein verpasster Geburtstag hier, eine übersehene Deadline dort – das Leben mit ADHS ist wie ein Tanz auf vielen Hochzeiten. Viele Erwachsene treten den Gang zur Diagnose bei einem Psychotherapeuten mit Zögern an, besorgt über Stempel, die sie fürchten aufgedrückt zu bekommen. Doch dieses Zögern kann wertvolle Zeit kosten – Zeit, die genutzt werden könnte, um Strategien zu meistern, die mehr als nur ein Kapitel verbessern könnten.

Zappelphilipp und Träumelinchen

Erwachsene mit dem „Zappelphilipp-Syndrom” zeigen oft eine äußere Unruhe, sind impulsiv, ruhelos und leicht reizbar. Ihre Energie scheint grenzenlos, doch diese ständige Bewegung ist ein Versuch, mit ihrem inneren Chaos umzugehen. Sie kämpfen mit der Aufrechterhaltung der Konzentration auf monotone Aufgaben und suchen oft nach stimulierenden Aktivitäten, um ihr Bedürfnis nach Neuheit und Abwechslung zu stillen. Auf der anderen Seite steht das „Träumelinchen” – gekennzeichnet durch ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) ohne Hyperaktivität. Personen mit ADS sind Meister der inneren Unruhe und Gedankenflucht. Sie sind leicht ablenkbar, scheinen oft nicht zuzuhören und verlieren sich in ihren Gedanken. Ihre Herausforderung liegt nicht in der äußeren Aktivität, sondern in der Fähigkeit, ihre Aufmerksamkeit zu bündeln und zu fokussieren.

Superkräfte der ADHS-ler

Jenseits der täglichen Kämpfe bergen Menschen mit ADHS außergewöhnliche Fähigkeiten. Ihre Resilienz, ihre unerschöpfliche Neugier und ihre Fähigkeit, die Welt aus einem einzigartigen Blickwinkel zu sehen, sind wahre Geschenke. Diese Menschen können Situationen oft mit einer Kreativität und Originalität angehen, die Außenstehenden verborgen bleiben.

 

 

Nicht lebenslänglich

ADHS als Diagnose zu erhalten, bedeutet nicht, ein lebenslanges Etikett zu tragen. Vielmehr eröffnet das Verständnis für diese Besonderheit Wege, um individuelle Fähigkeiten und Potenziale zu erkunden. Sportliche Betätigungen, künstlerische Hobbys und gezielte Therapieformen sind wichtige Säulen, die helfen, innere Spannungen zu regulieren und das Selbstbewusstsein zu stärken. Vom hektischen Morgen in Annas Büro über das Orchester ohne Dirigent in ihrem Kopf bis hin zu den unentdeckten Superkräften, die in ihr und Millionen anderen Erwachsenen mit ADHS schlummern – die Reise durch die Welt des ADHS ist so vielfältig und bunt wie das Leben selbst. Und während Anna sich durch den Tag navigiert, bewaffnet mit Wissen, Unterstützung und Resilienz, erinnert uns ihre Geschichte daran, dass hinter jedem Moment des Chaos eine Chance zur Entfaltung verborgen liegt, bereit, von jedem entdeckt zu werden. (AW)

 

Im Interview:

Arne Konsulke

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Oberarzt in der Institutsambulanz der Psychiatrischen Klinik Lüneburg

Wie lässt sich eine ADHS-Erkrankung bei Erwachsenen diagnostizieren?

Zu Beginn der Diagnose steht eine ausführliche Anamnese, in der die Patienten nach ihrer Leidensgeschichte und ihren Symptomen befragt werden. In einer so genannten Fremdanamnese werden enge Bezugspersonen befragt, die mit den Patienten zusammenleben oder lebten, beispielsweise Eltern und Geschwister. Nach Möglichkeit sehen wir uns auch immer die Grundschulzeugnisse der Patienten an, da dort unter anderem auffälliges Verhalten und Hyperaktivität im Kindesalter dokumentiert sind. Wir erheben den so genannten psychopathologischen Befund, der beobachtbare Symptome beschreibt. Es werden psychometrische Testungen durchgeführt, die sich rückblickend auf das Kindesalter und auf die aktuell vorhandene Symptomatik beziehen.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es für ADHS-Patienten?

Die ADHS-Therapie setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Viele Patienten profitieren von Medikamenten, die innere Unruhe verringern und es ermöglichen, sich besser auf Themen und Dinge zu fokussieren. Verhaltenstherapeutische Einzel- und eventuell auch Gruppengespräche können dabei helfen, gewohnte und belastende Denk- und Verhaltensweisen nach und nach zu verändern. Die Patienten lernen, ihre eigenen Ressourcen besser zu nutzen. Ergotherapie unterstützt dabei, bessere Strukturen zur Selbstorganisation zu entwickeln. Um das eigene Zeitmanagement besser zu bewältigen, wird der Umgang mit Hilfsmitteln geübt, beispielsweise Kalender und Prioritätenlisten.

Foto: pixabay

Remmidemmi im Kopf
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