Seit ein paar Jahren treibt ein Geist sein Unwesen in Lüneburg. Auf Häuserwänden, Verteilerkästen, Bäumen, Laternenpfählen und an Brücken tauchen Graffitis von ihm auf. „Schmiererei“, meinen die einen, „Kunst“ nennen es andere. Einige suchen nach ihnen, fotografieren sie und kuratieren die Bilder auf Instagram. Vor Kurzem wurde der mutmaßliche Geistersprayer erwischt. Wir werfen einen Blick auf die Graffitiszene.
Die Stadt als Leinwand
Dunkle schwarze Nacht. Die Stadt schläft. Über den Lambertiplatz huschen ein paar Schatten. Sie verschwinden in Richtung Schlägertwiete. Geklacker und Zischen sind abwechselnd zu hören. Wenn die Sonne am Morgen die ersten Strahlen auf das Haus an der kleinen Gasse wirft, wird das Kunstwerk sichtbar, das hier in der Nacht entstand. Graffiti-Künstler stellen ihre Werke nicht in Galerien aus. Sie machen sich die Wände der Stadt zur Leinwand.
Auftrag statt Strafe
Einer aus der Szene ist Claas Hoffmann oder „Axit“. Seine Karriere als Graffiti-Künstler begann vor 20 Jahren in Radbruch. Er erinnert sich: „Wir waren eine Gruppe Teenager. Laut, auffällig und rebellisch. Die ersten Versuche mit Dosen machten wir an der Bushaltestelle. Und wurden erwischt.“ Achim Gründel war damals Bürgermeister. Statt zu bestrafen, bot er Claas und seinen Freunden einen Auftrag an. „Man muss nicht immer alles verbieten. Ich bot den Jugendlichen eine Ausgleichsfläche. Sie durften das Bushäuschen am Peerort gestalten. Und am Jugendzentrum ließ ich alte Holzplatten aufstellen, die bemalt werden dürfen.“
Legal sprayen in Lüneburg
Die Lüneburger Graffitiszene wurde geprägt von der Ikone Jens Flechtner, der vielen unter seinem Künstlernamen „Trica186“ bekannt ist. Er engagierte sich und sorgte für Flächen, an denen legal gesprayt werden durfte. „Jens starb 2012 im Alter von 41 Jahren und hinterließ ein großes Vakuum in der Szene“, erinnert Claas sich. Er und andere Künstler blieben mit der Stadt in Kontakt, um die Möglichkeiten zum Sprayen zu erhalten und auszuweiten. „Insgesamt gibt es 14 Flächen, an denen jeder sprühen darf. Die Sporthalle in Kaltenmoor ist offen zugänglich.“ Unter den rund 30 aktiven Sprayern gelten ein paar Regeln: Der Künstler sollte reflektieren, ob er das Bild, das er übermalen will, in gleicher Qualität oder besser gestalten kann. Zudem sollte immer ein ganzes Bild entstehen und das Konzept muss sich dem Rest anpassen. Die Künstler legen Wert auf hochwertige Farben, die kein Bitumen, Teer oder Chrom enthalten. Es ist unhöflich, frische Bilder zu übermalen. Alle Sprayer sind auf Instagram zu finden und können dort kontaktiert werden. Ein paar Plätze sind nur nach Absprache zugänglich. Wer hier sprayen möchte, meldet sich bei Claas: axitgraffiti@gmail.com. Auf Instagram heißt er
@axit_aksid.
Eine Galerie im Bahnhofstunnel
Auch Achim Gründel hat sich weiter mit dem Thema befasst. Die Bahnunterführung in Radbruch lud viele Sprayer ein, sich hier zu verewigen. Er sagt: „Seit 2017 wird aus dem düsteren dreckigen Bahntunnel der Kunsttunnel. Die Nutzer gestalten ihren Tunnel selber. Alle können an diesem Projekt teilnehmen. Von der Krippe, Schule, Bahnnutzern, Hobbykunstschaffenden bis zu professionellen Künstlerinnen und Künstlern sind alle eingeladen, sich zu beteiligen.“ Eine Druckerei aus Lüneburg stellte alte Druckplatten zur Verfügung. Ein Radbrucher Maler grundierte sie und Achim Gründel verteilt die Platten an Interessenten. Es gibt keine Vorgabe zur Gestaltung. Nur sollte das Motiv ethisch, politisch, religiös und sportlich neutral sein. Der Plan geht auf. „Es gibt viel weniger Schmierereien und es wurden nur wenig Bilder zerstört. Diese können wir jederzeit austauschen“, so der Initiator. Wer die lebendige Galerie im Bahntunnel von Radbruch mitgestalten möchte, meldet sich bei Achim Gründel per Mail: achimgruendel@gmx.de.
Stromverteiler aufhübschen
Die Telekom bietet das Projekt „Aus grau wird bunt“. Wer ein Gehäuse verschönern möchte, schickt ein Foto vom Objekt mit einem Motivvorschlag an produktion@telekom.de und lässt sich die Bemalung genehmigen. Lüneburg bietet für alle Künstler Platz, um sich zu verwirklichen. Trotzdem werden immer wieder nachts im Dunkeln Schatten durch die Stadt huschen. Man wird das Schütteln der Dose und das Sprühgeräusch hören. Und am nächsten Morgen ist die Stadt wieder reicher um ein Bild, das dem einen buchstäblich auf den Geist geht, dem anderen einen Instagram-Post wert ist. (AW)