
Waltraud Pfeilschifter ist Chefärztin der Neurologie am Klinikum Lüneburg
In ihrer Position gibt es wenige weibliche Vorbilder, und dennoch hat sie immer von dieser Karriere geträumt: Prof. Dr. Waltraud Pfeilschifter ist seit 2021 Chefärztin der Neurologie am Klinikum Lüneburg. Auf die Gründung einer Familie hat die 46-Jährige nicht verzichtet.
Waltraud Pfeilschifter ist verzaubert von Lüneburg mit seiner „Wohlfühlatmosphäre”, wie sie sagt. Dabei war lange die Stadt Frankfurt ihre geliebte Heimat. Aufgewachsen in der hessischen Stadt Langen, ging sie nach dem Abitur nach Frankfurt, um Medizin zu studieren. Im Studium schrieb sie ihre Doktorarbeit in Pharmakologie, und im Rahmen eines Erasmus-Austausches ging sie 2003 für ein Jahr in Frankfurts Partnerstadt Lyon und 2004 nach Paris. 2005 war sie fertig mit dem Medizinstudium. Den Fachbereich Neurologie entdeckte sie am Ende ihres Studiums für sich, und so bewarb sie sich im Anschluss in der Neurologie der Uniklinik in Frankfurt auf eine der gefragten Weiterbildungsstellen. „Das ist eine Top-Ausbildungsstelle”, erklärt Waltraud Pfeilschifter. Insgesamt neun Jahre, von 2005 bis 2013, arbeitete sie als Assistenzärztin an der Frankfurter Uniklinik, lebte in der Zeit auch in der Stadt. „Frankfurt ist eine meiner Lieblingsstädte”, erzählt die Ärztin, die regelmäßig dort ihre Familie besucht. „Da ist eine tolle Atmosphäre und multikulturelles Zusammenleben wird dort nicht als Problem gesehen.”
Sie hängte sich während dieser Zeit voll in die Arbeit. „Während meiner Facharzt-Weiterbildung hatte ich nur Medizin im Kopf. Es war noch ein abstrakter Gedanke, eine Familie zu gründen”, erinnert sie sich. Parallel zu ihrer Arbeit als Assistenzärztin forschte sie am Uniklinikum. „Ich beschäftigte mich damit, was im Gehirn nach einem Schlaganfall auf Zellebene passiert, welche Schädigungsmechanismen es gibt”, erklärt sie. Mal war sie im Labor, mal in der Klinik, betrieb immer wieder „Feierabendforschung”. Auch die Betreuung von Doktoranden gehörte zu ihrer Arbeit.
Alle Karrierestufen
Während dieser Frankfurter Zeit war Waltraud Pfeilschifter voll in ihrem Element, sie war als Prüfärztin in klinischen Studien hautnah bei wichtigen wissenschaftlichen Durchbrüchen in ihrem Fach dabei und erreichte alle Karrierestufen, die ihr vorschwebten. 2014 habilitierte sie im Fach Neurologie. Seitdem leitete sie als Oberärztin die Intensivstation mit Notaufnahme, später auch die Schlaganfallstation. 2016 wurde sie zur außerplanmäßigen Professorin berufen. Die Lehre gehört an Unikliniken ebenso zu den Aufgaben jeder Abteilung wie die Krankenversorgung und die Forschung. Die experimentelle Arbeit im Labor überließ Waltraud Pfeilschifter zunehmend anderen. „Man muss zunehmend delegieren und koordinieren und kann nicht mehr selber im Labor stehen”, erklärt sie.
Eine freudige Zäsur in ihrem Leben gab es 2018, als sie mit 39 Jahren ihren Sohn zur Welt brachte. Ihren Mann Josef, damals Universitätsprofessor für Pharmakologie und Toxikologie am Universitätsklinikum Frankfurt und viele Jahre Dekan der Medizinischen Fakultät der Goethe-Universität, hatte sie an der Universität kennengelernt. „Ich habe als Studentin seine Vorlesung gehört und war so beeindruckt von seiner Begeisterung für die Wissenschaft, dass ich mich zu einer Promotion in seinem Institut entschied”, erinnert sie sich. Drei Jahre arbeitete sie parallel zum Medizinstudium in dem von ihm geleiteten Forschungsinstitut. „In dieser Zeit haben wir uns verliebt”, so die Ärztin. Obwohl sie die wissenschaftliche Arbeit und den Austausch mit den internationalen Kollegen hochspannend fand, entschied sie sich für eine Facharztausbildung in der Klinik, weil die Arbeit mit den Patienten sie doch mehr ansprach.
Eine persönliche Entscheidung musste auch nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes her. „Ich habe gemerkt, es geht nicht alles zusammen”, erzählt Waltraud Pfeilschifter. „Mir lag am meisten an der Krankenversorgung, aber auf einem hohen Niveau ohne wesentliche Abstriche zur Uniklinik.” So suchte sie eine neue Arbeitsstelle. „Da war das Klinikum Lüneburg genau richtig.” Auf ihrer Suche nach einem neuen Schaffensort schaute sie nur nach Krankenhäusern in städtischer Trägerschaft, da sie die Gewinnerzielungsabsicht der Klinikkonzerne nicht vereinbar mit ihren Vorstellungen fand. „Da ich die Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung nicht richtig finde, habe ich mich entschlossen, meine Arbeitskraft nicht einem Klinikkonzern zur Verfügung zu stellen”, erklärt sie.
Flache Hierarchien
Bei ihrer Bewerbung auf den Chefarztposten der Neurologie am Klinikum Lüneburg setzte sich Waltraud Pfeilschifter schließlich gegen rund 20 Bewerber durch. „Ich war die einzige Frau unter den Bewerbern”, weiß die Ärztin, die nach der Geburt ihres Sohnes ein Jahr vom Job pausiert hatte. Im Anschluss hatten sie in Frankfurt eine private Ganztags-Betreuung für ihr Kind zu Hause. Finanziell war das nicht rentabel, doch ihr Wunsch, in die Klinik zurückzukehren, war groß. „Diese Ganztags-Betreuung hat es mir ermöglicht, tagsüber den Kopf frei für die Arbeit zu haben und abends die Zeit mit meiner Familie zu genießen.“ 2021 änderte sich für die Familie dann alles. Waltraud Pfeilschifter zog mit ihrem Sohn nach Lüneburg
und trat ihren neuen Posten als Chefärztin der Neurologie an. Ihr Mann blieb beruflich im rund 400 Kilometer entfernten Frankfurt. „Uns war klar, dass es diese Stellen nicht um die Ecke gibt”, erklärt die Ärztin, deren Sohn einen Kitaplatz am Klinikum Lüneburg erhielt. Doch Wochenendbesuche und lange Bahnfahrten gehören bald der Vergangenheit an: Josef Pfeilschifter ist seit diesem Jahr pensioniert und wird bald zu seiner Familie nach Lüneburg ziehen.
Waltraud Pfeilschifter ist zufrieden, dass sie sich nach ihrem Weggang aus der Universitätsmedizin mit den fast unerfüllbaren Ansprüchen aus Forschung, Lehre und Patientenversorgung nun voll auf ihre Arbeit als Ärztin konzentrieren kann. „Mein Platz ist bei den Patienten”, betont sie. Das Klinikum Lüneburg sei toll aufgestellt und „ziemlich nah dran an dem, was ich mir immer gewünscht habe“. Am Lüneburger Klinikum sind nun zwei von insgesamt 13 Chefarztstellen mit Frauen besetzt. Waltraud Pfeilschifter spürt keine gravierenden Unterschiede im Umgang mit ihr als weiblicher Führungskraft im Unterschied zu männlichen Chefs, sieht aber weiterhin viele Hindernisse für Frauen auf dem Weg zu einer Chefarztstelle. Es sei aber insgesamt ein Generationenwandel zu beobachten, mit dem flachere Hierarchien und ein lockerer Umgang untereinander einhergingen, so ihre Einschätzung. Sie hat ihren Kollegen schnell das Du angeboten und legt großen Wert auf ein kollegiales Verhältnis zu den Pflegefachkräften und weiteren Berufsgruppen im Krankenhaus.
Waltraud Pfeilschifter arbeitet in Vollzeit im Klinikum, ihr Sohn geht in die erste Klasse. Die Kinderbetreuung übernimmt zum Teil ihr Mann, es gibt eine Nachmittagsbetreuung und ihr Sohn werde immer unternehmungslustiger mit Schulfreunden und Hobbys. Nach der Geburt ihres Sohnes hatten beide beruflich zurückstecken müssen – und das tat ihr Mann in gleichem Ausmaß wie sie. „Das war für viele seiner Kollegen ungewöhnlich, da dieser Sinn für Fairness in seiner Generation – und wie ich das sehe, auch bei jüngeren Männern – noch nicht selbstverständlich ist”, erklärt sie.
Kein Verzicht auf Kinder
Viele Medizinerinnen würden ihre Kinder schon in der Weiterbildung bekommen, „und das ist auch gut so“, meint Waltraud Pfeilschifter. Trotz der Berufswahl als Ärztin ein Kind zu bekommen, wäre in früheren Zeiten kaum möglich gewesen. „Früher wurde eine große Hingabe an den Arztberuf erwartet, das hat sich schon verändert”, meint die 46-Jährige. „Es ist ein menschlicherer Job geworden.” Waltraud Pfeilschifter hatte immer den Wunsch nach einer Familie mit Kindern. „Meine wenigen weiblichen Vorbilder aus der Generation davor haben noch größtenteils auf Kinder verzichtet.” Sie ist froh über die Möglichkeit der Elternzeit und geteilten Betreuung.
Das berufliche Steckenpferd der Chefärztin ist die Schlaganfallmedizin. Sie ist jeden Tag auf Station und behandelt ambulante Patienten. Zu ihrem Job gehören das Festlegen von Standards, das Integrieren von Forschungsergebnissen und die Sicherung einer guten Behandlungsqualität. Die Weiterbildung von jungen Ärztinnen und Ärzten macht ihr besondere Freude. „Wir können mit dem Pfund wuchern, dass wir städtisch sind”, meint sie. „Was sich außerdem auszahlt, ist, dass wir hier auf gute studentische Ausbildung achten.” So könne sich das Klinikum nicht über einen Mangel an Bewerbern beklagen.
Ein wichtiges Thema für Waltraud Pfeilschifter ist die Integration von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Ausland. „Wir brauchen ausländische Fachkräfte. Ein Viertel meiner ärztlichen Mitarbeiter hat einen ausländischen Studienabschluss”, erzählt sie. Die vier jungen Frauen kommen aus dem Irak, Ägypten, Taiwan und Mazedonien und sind alle direkt nach ihrem Studium nach Deutschland gekommen. Da sie aufgrund ihres in Deutschland nicht anerkannten Abschlusses nicht sofort hier einsetzbar seien, dauere es aber in der Regel rund zwei Jahre, bevor sie die Erlaubnis erhielten. Neben einer Fachspracheprüfung sei der Nachweis von einer einjährigen Tätigkeit für die Approbation in Deutschland nötig. „Diese Ärztinnen und Ärzte nehmen viel auf sich, um in Deutschland zu arbeiten. Das sollten wir würdigen.“
Mehr weibliche Bewerberinnen
„Von zwölf Assistenzärzten meiner Klinik sind derzeit nur zwei Männer. Damit sind die Frauen selbst im Verhältnis zum hohen Frauenanteil unter den Medizin-Absolventinnen überrepräsentiert. Bei mir bewerben sich sehr ambitionierte Frauen, vielleicht gerade, weil sie mit einer Chefärztin arbeiten wollen”, berichtet sie. Bedenken, Frauen einzustellen, hat sie absolut nicht. Sie erwartet eine Hinwendung zu einer ausgewogeneren Geschlechterverteilung. „65 Prozent der Uni-Absolventen in der Medizin sind Frauen. Das ist seit 20 Jahren so, aber in der Führungsebene noch nicht angekommen. Da sehe ich eine beträchtliche Gerechtigkeits-Lücke. Ich bin gespannt, wie das Paare der Zukunft machen.” Die Zukunft liege wahrscheinlich in Modellen wie dem Jobsharing, bei dem sich mehrere Personen eine Führungsposition teilen. Das müssten nicht nur Frauen sein, sondern auch Männer, die sich gleichberechtigt in die Kindererziehung und die Familienarbeit einbringen möchten. „Solche Modelle machen Schule, man könnte sich auch zusammen bewerben”, meint die Chefärztin. Sie selbst hätte sich ihre Arbeit in Teilzeit jedoch nicht vorstellen können: „Ich bin sehr erfüllt von meinem Beruf und habe ein hohes Sinnhaftigkeitsempfinden bei meiner Arbeit. Teilzeit wäre mir einfach zu wenig.” Die Ärztin hofft, in der Neurologie noch viel medizinischen Fortschritt mitzuerleben. Zum Beispiel gebe es derzeit in der Alzheimertherapie bahnbrechende Entwicklungen, und auch andere Erkrankungen wie die Multiple Sklerose (MS) seien mittlerweile viel besser behandelbar. Waltraud Pfeilschifters Aufgabe ist es, immer auf dem Laufenden zu bleiben und die Forschungsergebnisse den Patienten in ihrem Einzugsgebiet zugänglich zu machen. Außerdem ist sie im Vorstand der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft. Sie besucht regelmäßig Kongresse, organisiert aber auch selbst Fortbildungen in Lüneburg. In der Region arbeitet ihre Abteilung eng mit dem Klinikum in Uelzen und den Hamburger Kliniken zusammen, ebenso mit den Rettungsdiensten. „Da konnten wir für die Schlaganfallversorgung schon viel erreichen”, freut sich die Ärztin. (JVE)
Foto: Andreas Tamme