Warum polyamore Beziehungen populärer
werden – aber nur die wenigstens halten
Der neue Trend heißt „alternativ sein“ und offenbar jeder will aufspringen. Auch in der Liebe suchen viele nach alternativen Glückskonzepten – werfen das Ideal der Kernfamilie über Bord und führen mit mehreren Partnern Liebesbeziehungen. Soweit, so juhu. Aber kann das gutgehen? Und wenn ja, wie lange? „Schatz, ich habe mich noch in jemand anderen verliebt!“ Was in vielen Beziehungen wohl in einen Rosenkrieg ausarten würde, gehört in den sogenannten polyamoren Beziehungen sogar dazu. Die Polyamorie (ein Kunstbegriff aus griechisch poly = viel und lateinisch amor = Liebe) ist ein Gegenentwurf zur Monogamie – ein Lebensstil, der Liebesbeziehungen zu mehr als nur einem Menschen erlaubt und auch bei uns an Anhängern gewinnt. Mittlerweile haben sogar Zeit, Stern und Focus bereits ihren Schlafzimmerblick aufgesetzt und mit dem Erschauern des Voyeurs mal nachgefragt, wie Menschen sich wohl zu dritt oder zu viert oder zu wie viel auch immer lieben und schätzen. Ergebnis: Leicht zu leben scheint der Ausstieg aus der Zweierbeziehung nicht gerade zu sein. Denn da ist ja noch das Thema Eifersucht, und die macht auch vor den Polys (so nennen sich die Liebesaussteiger oder –umsteiger selbst) nicht halt.
Lieber bedeckt halten
Leela ist einer dieser Polys und lebt ganz in der Nähe von Lüneburg. Wo genau und auch ihren richtigen Namen möchte sie hier lieber nicht lesen, auch wenn sie sich ansonsten eigentlich ganz selbstbewusst gibt: „Eigentlich weiß ja jeder in meinem privaten Umfeld, wie ich lebe und liebe“. Dennoch: „In der Nachbarschaft und auf Arbeit“, wie sie sagt, will sie nicht das „Thema Nummer 1“ sein. Da möchte sie sich auch weiter bedeckt halten: „Ich arbeite seit Jahren in verantwortlicher Position in einem Baumarkt, ich finde nicht, dass dort jeder wissen muss, was bei mir privat abgeht.“ Und was bei ihr aktuell abgeht, ist derzeit eine ganze Menge, sagt Leela lächelnd. Gerade hat sie sich wieder verliebt – in eine Frau. Ihr langjähriger Freund, ein Steuerfachanwalt, weiß davon, erzählt sie. „Er findet das ganz ok“. Jedenfalls hat er nichts dagegen, fügt Leela hinzu. Das wäre auch etwas merkwürdig, denn kennengelernt hat sie ihren Anwalt, nennen wir ihn Reiner, in der ältesten Lüneburger Kneipe, im Pons. Bei einem der regelmäßigen Treffen der kleinen Lüneburger Poly-Gemeinschaft, einer Art Stammtisch für Freigeister jeder Couleur. „Wir freuen uns über alle Menschen, die sich in ihrem Lebenskonzept nicht im Mono-Sein verorten und Lust haben, ihren Freundes- und Bekanntenkreis zu erweitern“, heißt es sinngemäß auf deren Internet-Seite.
Zwanglose Treffen
„Das hörte sich gut für mich an“, sagt Leela. „Darum habe ich da mit einer guten Bekannten einfach mal vorbeigeschaut und war gleich positiv überrascht.“ Es ging relativ zwanglos auf dem Treffen zu, man sprach über dies und das. Das Hauptthema: Eifersucht in der oder den Beziehungen, denn auch davor sind die Polys nicht gefeit. Leela: „Aus lauter Verliebtheit so zu tun, als wäre man okay mit etwas, das einem eigentlich nicht gut tut und in Wahrheit vor Eifersucht zu vergehen oder sich heimlich mit anderen zu treffen, das funktioniert dauerhaft auf keinen Fall. Das wusste ich aber auch schon vorher.“ Laut einer Studie der University of Rochester funktionieren offene Beziehungen, zu denen auch die polyamoren gerechnet werden, ohnehin nur dann gut, wenn alle Beteiligten das wirklich wollen und auch nur mit stabiler Kommunikation. In den meis-ten Fällen hapert es aber besonders an letzterer. Nach einer Untersuchung scheitern etwa 75 Prozent aller polyamoren Beziehungen bereits innerhalb des ersten halben Jahres, nur ein Bruchteil kann den zweiten Jahrestag feiern. Leela ist imemrhin schon zwei Jahre mit ihrem Reiner zusammen: „Für uns ist wichtig, dass wir wissen, woran wir miteinander sind, dass wir offen miteinander umgehen und uns aufeinander verlassen können.“ Das klappe auch mal besser und mal weniger gut, gibt sie zu.
Über ihre neue Verliebtheit zu einer Frau hat sie Reiner ganz freimütig erzählt, sie auch schon mit in die gemeinsame Wohnung gebracht. Man habe gemeinsam zu dritt gegessen, Wein getrunken. Mehr war dann aber nicht, sagt Leela. Ohnehin sei Polyamorie ja kein starres Konzept, es ginge auch nicht immer um das eine oder um heimliche Affären beziehungsweise vordergründig um freie Liebe. Das seien alles Klischees. Bei einigen Konstellationen sind sogar alle Partnerschaften einander gleichgestellt. In den meisten Fällen gibt es jedoch eine Hauptbeziehung, in der die Personen zusammenleben und Beziehungen zu anderen Partnern führen. Zirka 15.000 Menschen in Deutschland leben heute nach eigenen Angaben polyamor, doch es werden angeblich immer mehr. Immerhin zwölf Prozent von rund 3.000 befragten Parship-Mitgliedern gaben an, sie könnten sich eine polyamore Partnerschaft vorstellen. Woher kommt dieser Wunsch? „Liebes- und Beziehungspraktiken, die lange stigmatisiert wurden, sind von den Rändern der Gesellschaft längst in den Mainstream gerückt“, sagt hierzu Zukunftsforscher Andreas Steinle. „Verpflichtende Moralvorstellungen wie sie beispielsweise seitens der Kirchen formuliert werden, lassen mit der Individualisierung nach.“
Mit Kindern wird’s kompliziert
Nur, wie klappt das alles mit der großen Beziehungsfreiheit, wenn zum Beispiel Kinder im Spiel sind? Leela: „Tatsächlich stelle ich mir das nicht unbedingt einfach vor. Aber es ist lösbar. Gerade durch Kinder kann man ja praktisch hautnah erfahren, dass die Liebe nicht kleiner wird, wenn man sie auf mehrere Personen verteilt…“ Aber das sei alles noch sehr theoretisch, gibt sie zu. Ihr Reiner sehe das auch noch etwas anders. Ihr Lebensgefährte sei der Ansicht, dass gerade Kinder einen festen Bezug und eine feste Struktur und gewisse Verlässlichkeiten benötigten. Es sei ihnen nicht vermittelbar, wenn die Mutter oder der Vater dauernd gute Freunde mit nach Hause brächte und diese auch noch dort übernachteten. „Das müssen wir alles noch viel intensiver diskutieren, denn mittelfristig wollen wir Kinder. Vielleicht diskutieren wir das auch in großer Runde. Wir sind ja aktiv im PAN (Polyamoren Netzwerk) und würden gerne beim nächsten überregionalen Treffen in Thüringen dabei sein, das findet im Februar statt. Motto: Love is Love 2023. Schöner kann man doch nicht ins neue Jahr starten, oder?“ (RT)