200 bis 300 Menschen werden in Deutschland täglich als vermisst gemeldet
Es passiert jede einzelne Stunde, überall in Deutschland, vielleicht schon morgen auch in Ihrer Nachbarschaft. Menschen verschwinden spurlos… Die Ungewissheit, was mit ihren Lieben passiert sein könnte, ist der blanke Horror für Angehörige und Freunde. Zwar lassen sich zwei Drittel der Fälle innerhalb der ersten drei Tage klären, doch nicht immer gibt es ein Happy End. Manche Vermisste bleiben für immer verschwunden. Was ist mit ihnen passiert? Sind sie untergetaucht, aus welchen Gründen auch immer? Wurden sie entführt? Sind sie lange nicht mehr am Leben…?
Oft sind es ausgebüchste Teenager, die nach einem Streit in der Familie Reißaus nehmen, nicht selten sind es auch an Demenz erkrankte Senioren. Aber manchmal stecken auch kriminelle Machenschaften dahinter.
In der Datei „Vermi/uTot“ werden alle Vermissten-fälle gesammelt
Alle Vermisstenmeldungen bundesweit werden beim Bundeskriminalamt gespeichert. Der Name der Datei ist so düster wie manche der rätselhaften Altfälle es sind: „Vermi/uTot“. Auf die 1992 in Betrieb genommene Datei haben alle 16 Landeskriminalämter Zugriff. Ziel der Datei ist es, durch einen rechnergestützten Vergleich über die Beschreibung der Person und die Umstände des Falles Zusammenhänge zwischen vermissten Personen und unbekannten Leichen beziehungsweise nicht identifizierten hilflosen Personen zu erkennen.
Wird bei einer Recherche festgestellt, dass eine unbekannte Leiche/nicht identifizierte, hilflose Person mit einer vermissten Person identisch sein könnte, werden die beteiligten Dienststellen informiert. Sie führen dann einen direkten Abgleich der Beschreibungsmerkmale des jeweiligen Gegenparts durch. Reichen die vorhandenen Merkmale für eine zweifelsfreie Identifizierung nicht aus, erfolgt ein DNS-Abgleich. Ist die Identität eines Vermissten mit einer unbekannten Leiche/nicht identifizierten hilflosen Person nachgewiesen, werden die Angehörigen benachrichtigt. Alle betroffenen Daten werden aus der Datei gelöscht. Zum Jahresende waren es allein in Niedersachsen 1.298 ungeklärte Schicksale, die in „Vermi/uTot“ aufgeführt waren. In dieser Zahl sind sowohl Fälle vermisster Personen enthalten, die sich innerhalb weniger Tage aufklären, als auch über viele Jahre oder Jahrzehnte Vermisste, deren Aufenthaltsort/Verbleib nicht festgestellt werden konnte.
Der älteste niedersächsische Fall reicht bis ins Jahr 1957 zurück. Damals verschwand ein Mann im Emsland, vermutet wird ein Tötungsdelikt. Erst 2020 lief der „Cold Case“ nochmal heiß… Auf einem landwirtschaftlichen Grundstück bei Schapen wurde nach sterblichen Überresten des seit über 60 Jahren Vermissten gesucht. Kurz zuvor habe es von einem 84 Jahre alten Mann „sehr vage Hinweise“ auf eine Gewalttat gegeben, hieß es von einer Polizei-Sprecherin. Gefunden wurde bei den Grabungsarbeiten allerdings nichts, der Fall bleibt mysteriös.
Der Experte kennt die Verzweiflung der Angehörigen…
Prof. Klaus Püschel ist ehemaliger Direktor des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin. In seiner langen beruflichen Karriere hat er viel mit Vermisstenfällen zu tun gehabt. Er ist ein besonnener Mann, weiß, was der Mensch einem anderen Menschen antun kann. Und er kennt die Verzweiflung der Familien und Freunde, wenn ein Schicksal nicht geklärt ist, nur zu gut. Inständig hoffen sie, dass ihre Lieben noch leben und sie sie wiedersehen werden. Wenn es aber keine Hoffnung mehr gibt, hilft es, wenigs-tens ein Grab zu haben, an dem man trauern kann. Was den renommierten Pathologen in seinen letzten Monaten als Institutsdirektor besonders beschäftigte, war auch ein Fall aus Lüneburg. Im September 2018 fand ein Förster im Dickicht eines Waldstücks östlich des Elbeseitenkanals den skelettierten Schädel einer Frau. Beamte durchkämmten danach mit Spezialhunden das Gebiet und fanden unter anderem weitere Knochen. Die Identität der unbekannten Toten zu klären, gelang jedoch nicht. Püschel hofft jedoch, dass die Ermittlungen, die derzeit „quasi brach“ liegen, schon bald wieder hochgefahren werden. Denn ganz sicher gäbe es irgendwo jemand, der die Frau vermisst und sich täglich fragt, was mit ihr geschehen sei, so der Experte. Das sei schrecklich und dürfe nicht sein.
Dramatische Vermisstenfälle sind die Ausnahme
Glücklicherweise sind diese spektakulären Vermisstenfälle, noch dazu solche mit tödlichem Ausgang in Lüneburg noch immer die Ausnahme. Auch die Zahl der über Jahre verschwundenen Kinder ist eher ein Großstadtphänomen. Gerade wenn es sich um Kinder beziehungsweise um Minderjährige handelt, reagiert die Polizei sehr schnell – sind die Vermissten Erwachsene, müssen erst bestimmte Kriterien zutreffen, damit eine Fahndung eingeleitet wird. „Polizeilich gesehen ist es so, dass der Erwachsene erst dann als vermisst gilt, wenn er seinen gewohnten Lebenskreis verlassen hat – und eine Gefahr anzunehmen ist, das heißt zum Beispiel, er einen Abschiedsbrief hinterlassen hat“, so eine LKA-Sprecherin. Der Anteil der dementen Menschen an der Vermissten-Statistik, die nicht mehr nach Hause oder ins Altenheim zurückfinden, wird von Ermittlern als hoch eingeschätzt. Auch bei diesen Fällen besteht Lebensgefahr für die vermisste Person, auch hier leitet die Polizei die Fahndung umgehend ein. Im Normalfall aber ist das Verschwinden aus der angestammten Umgebung nicht gesetzlich geregelt, eine Fahndung nicht immer die Folge. Denn: Zu verschwinden oder unterzutauchen ist keine Straftat. Nach dem Grundgesetz-Artikel 11 genießen alle Deutschen Freizügigkeit im Bundesgebiet.
Im Rheinland griff die Polizei vor einigen Monaten einen Lüneburger auf, den seine Familie als vermisst gemeldet hatte. Er war 2022 von einem Tag auf den anderen untergetaucht, sein Handy abgemeldet, die Angehörigen machten sich große Sorgen. Da einfach abzuhauen an sich aber kein Fall für Ermittlungsbehörden ist, der Aufgegriffene gesund und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, wurde die Vermissten-fahndung gelöscht. Weil der Mann zudem ausdrücklich darauf bestand, dass Mutter und der Bruder nicht über seinen Aufenthaltsort informiert werden sollen, fragen sich die beiden vermutlich heute noch, warum er ohne ein Wort des Abschieds gegangen ist… (RT)
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Die europaweit einheitliche Hotline für vermisste Kinder ist rund um die Uhr (24/7) kos-tenlos aus allen Netzen zu erreichen. Sie erhalten hierüber in Deutschland und den übrigen EU-Mitgliedsstaaten Beratung und Hilfe.