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Die Adendorfer Schaustellerfamilie Voß bangt um ihre Zukunft

Familie Voß ist in dieser Jahreszeit normalerweise nicht zu Hause. Für die Schausteller wäre jetzt Hochsaison. Doch wegen der Corona-Pandemie können sie bis mindestens Anfang September nicht arbeiten. „Ich bin so durcheinander, dass ich nicht einmal weiß, wo wir jetzt gerade wären”, so Paul Voß. Mitte März wäre für die Schaustellerfamilie die Saison losgegangen, dann wären sie mit ihren Lastwagen mitsamt Greifer-Automaten nach Hamburg gefahren, um ihr Geschäft für den Hamburger Frühlingsdom aufzubauen, der am 27. März beginnen sollte. Doch dann kam das Coronavirus, und alles wurde anders. „Als wir vom Verband gehört haben, dass der Frühlingsdom ausfällt, ist für uns schon eine Welt zusammengebrochen”, erzählt Peggy Voß. „Wir hatten gehofft, den Dom mit besonderen Hygienemaßnahmen noch hinzubekommen.” Schon während der ausgefallenen 31 Spieltage des Doms hofften die Schausteller, ihre Saison nur etwas verspätet beginnen zu können. „Wir hatten das Thema jeden Tag im Kopf, hofften auf Mai, auf kleine Veranstaltungen” so Paul Voß. Dass Mitte April von Bund und Ländern alle Großveranstaltungen bis zum 31. August untersagt wurden, ist für die Schausteller eine Katas-trophe. Familie Voß arbeitet in der Regel von März bis Weihnachten, je nach Fest mit Greifer-Automaten, Crepesstand oder Schwenkgrill. Auf dem Weihnachtsmarkt in Lüneburg fällt am 23. Dezember gewöhnlich die letzte Klappe. Doch durch das Verbot fällt nun mindestens mehr als die Hälfte ihres Jahreseinkommens weg. Die Zeit der Coronakrise bedeutet für sie eine Achterbahn der Gefühle. „Einen Tag ist man optimistisch, und den nächsten will man manchmal gar nicht aufstehen”, so Peggy Voß. Sie hofft auf Lockerungen zum September, damit sie irgendwie durch den Winter kommen. „Das Oktoberfest in Lüneburg wäre das erste für uns. Aber wir wissen noch nicht, wie die Leute dann weggehen und Geld ausgeben, sie müssen sich ja erst daran gewöhnen”, meint Paul Voß. Die Familie hat Verständnis für die Absagen der Großveranstaltungen. „Gesundheit geht natürlich vor. Aber kleinere Veranstaltungen wie Schützenfeste oder Dorffeste wären vielleicht gegangen”, meint Peggy Voß, „für die Gastronomie gibt es ja auch Regelungen.” Ihr und ihrem Mann fällt es zunehmend schwer zu verstehen, dass sie ihre Arbeit komplett einstellen müssen. „Das Verständnis hört langsam auf”, sagt sie.

Viel Zeit zu viert

Nicht nur Paul und Peggy Voß (beide 42) wohnen zurzeit dauerhaft in ihrem Wohnwagen auf dem Betriebsgrundstück im Gewerbegebiet in Adendorf, auch ihre Kinder Henry (14) und Helene (12), die die Schule am Katzenberg besuchen, sind seit Mitte März zu Hause. Für die vierköpfige Familie heißt das: Hausaufgaben auf engem Raum, Arbeiten auf dem Gelände und ungewöhnlich viel Zeit zu viert. „Meine Frau managet jetzt alles mit der Schule, denn die Kinder haben tausend Fragen”, so Paul Voß. Auf dem Plan stehen nun plötzlich Radtouren, Sport und Grillen mit der Familie. „Für uns als Familie ist das natürlich schön, wir kommen ja sonst nicht dazu”, sagt der Familienvater. „Ich kann mich auch schon mal in Ruhe hinsetzen, aber sobald die Sonne scheint, denken wir: Heute hätten wir schön Geld verdienen können. Wenn man bedenkt, wie der April war und wir waren zu Hause, dann brennt einem das Herz.”

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Stillstand kennt die Schaustellerfamilie nicht. Die Eltern und ihre Kinder nutzen die Zeit, um ihren Crepesstand auf Vordermann zu bringen, der gewöhnlich in der Winterzeit auf Märkten ebenso zum Einsatz kommt wie ihr markanter Schwenkgrill mit Weihnachtspyramide. Renovierungsarbeiten laufen normalerweise nebenher, während das Geschäft an anderer Stelle brummt – nun kann die ganze Familie mit anpacken. Ein Aspekt, den Paul Voß durchaus auch positiv bewertet. „Vor allem unser Sohn weiß manchmal gar nicht, was es bedeutet, Schausteller zu sein. Die Kinder sind ja sonst in der Schule, und wir haben Personal, das uns hilft, an den Hütten was zu machen. Durch diese Zeit hat gerade unser Sohn sehr viel gelernt, was Werkzeug und Material angeht”, erklärt er. Ihre Tochter Helene sei da anders, habe schon immer das Geschäft mehr durchblickt. Zwar gab es auch für Familie Voß eine Corona-Soforthilfe für die laufenden Betriebskosten – doch auch diese ist bereits aufgebraucht. Die Familie spart nun, wo sie kann, lebt von kleinen Rücklagen. Noch im vergangenen Jahr hatten sie neue Greifer-Automaten angeschafft, viel Geld inves-tiert. Kredite müssen nun zurückgezahlt werden. Einen Laster wollten sie neu lackieren lassen, hatten über die Vergrößerung ihres Grundstücks nachgedacht, doch das können sie jetzt vergessen. Stattdessen hat Familie Voß mehrere Laster abgemeldet und Versicherungen auf Eis gelegt. Auch auf Reisen, wie sie sie normalerweise im Januar oder Februar machen, um mal zu viert wegzukommen, müssen sie wahrscheinlich in den nächsten Jahren verzichten. Ihren rumänischen Saisonarbeitern mussten sie vorerst absagen – auch diese wissen nun nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. Zudem mussten sie bei ihren Lieferanten Bestellungen stornieren, zum Beispiel von Plüschtieren für die Greifer. „Nun haben wir natürlich auch Angst, dass unsere Zulieferer pleite gehen”, so Peggy Voß.

Hoffen auf den Rettungsschirm

In der Krise wird für die Schausteller deutlich, dass die jeweilige Branche entscheidend dafür ist, wie sie jetzt über die Runden kommen. „Wir haben von Kollegen gehört, die ihre Buden an der Tankstelle oder vor dem Supermarkt aufgestellt haben, aber einen Crepes kann man nicht gut mitnehmen, er muss ja warm sein”, so Paul Voß. Ihre Greifer können sie ebenfalls nicht einfach irgendwo aufstellen. Genauso geht es den Karussellbetreibern. Alle Schausteller hoffen nun auf einen Rettungsschirm von der Regierung. Krisen wie diese kannte Familie Voß bisher nicht. „Meine Mutter hat erzählt, selbst im Krieg durfte man seine Buden noch aufbauen”, berichtet Peggy Voß. „Sie hat nicht geglaubt, dass sie mit 80 noch mal Stubenarrest bekommt.” Die Schaustellerkollegen in ihrem Lüneburger Verband stehen im regelmäßigen Kontakt. „Die Stimmung ist überall am Boden”, so Paul Voß. Für das Ehepaar bedeutet der Ausfall der Arbeit nicht nur einen hohen finanziellen Verlust. „Als Schausteller mischen sich das private Leben und die Arbeit, denn das Leben findet ja den ganzen Tag auf dem Fest statt. Uns fehlen auch die ganzen Freunde und Bekannten”, meint Peggy Voß. Sollte es keinen Rettungsschirm für die Schausteller geben, fürchtet Familie Voß um das Aussterben ihres Gewerbes. „Wir reden nicht nur über die Kirmes, sondern über ein großes Stück Kultur”, meint Paul Voß. „Das Karussell ist 400 Jahre alt und muss sich immer weiter drehen”, ergänzt seine Frau. „Das Volksfest ist ein Antidepressivum für die Gesellschaft, und es ist ja auch unsere Berufung, den Leuten Freude zu bringen. Es wäre also auch wichtig für die Gesellschaft, dass es weiter geht, vom Finanziellen ganz abgesehen.”

Als Schausteller geboren

Paul und Peggy Voß stammen beide aus Lüneburger Schaustellerfamilien. Schon ihre Mütter waren Freundinnen, lernten sich im Krankenhaus kennen, als Paul und Peggy geboren wurden. Die beiden kannten sich bereits als Kinder, verloren sich aber aus den Augen, als Pauls Mutter mit ihm nach Kassel zog. Seine Großeltern betrieben ein Karussell und einen Zuckerwattestand. Mit 20 Jahren traf er Peggy auf dem Weihnachtsmarkt in Lüneburg wieder, und sie wurden ein Paar. Auch wenn es heute nicht mehr selbstverständlich ist, übernehmen gewöhnlich die Kinder von Schaustellern den elterlichen Betrieb. „Schausteller ist ja kein Beruf, da wird man reingeboren”, meint Peggy Voß. „Es ist selten, dass man einen anderen Beruf erlernt.” Auch für ihre Kinder ist schon klar, dass sie später Schausteller werden wollen. „Unsere Tochter hat es im Blut, sie ist geborene Schaustellerin und hat das schon total im Blick. Sie ist geprägt durch unseren Beruf.” Paul und Peggy Voß sind „Kirchturmreisende”, das heißt, sie reisen mit ihrem Geschäft in einem relativ kleinen Radius rund um ihr Zuhause. Gearbeitet wird auf Festen in nicht mehr als 80 Kilometern Entfernung, Ausnahmen bilden Paderborn und Cuxhaven. Durch den kleinen Radius sind die Eltern regelmäßig zwischendurch in Adendorf, wohnen dort sogar, wenn die Märkte nah dran sind. Aus diesem Grund können ihre Kinder eine feste Schule vor Ort besuchen und bei Peggys Eltern wohnen, wenn sie nicht da sind.

Noch lange nichts normal

Weil Pauls Mutter nach der Trennung von seinem Vater in einem großen Radius reiste, kam er als Grundschüler in eine Pflegefamilie in Kassel, wo er zehn Jahre lang unter der Woche lebte. Seine Mutter sah er an den Wochenenden, seine Großeltern besuchten ihn oft. Neben der Pflegefamilie war für Schausteller früher auch die Beschulung im Internat eine Alternative, doch beides ist nicht mehr so verbreitet. Peggy, die zunächst in Adendorf zur Schule ging und bei ihrer Großmutter lebte, wenn ihre Eltern unterwegs waren, reis-te nach dem Tod ihrer Oma mit den Eltern mit und besuchte so fünf bis sechs Schulen im Jahr. Doch nicht alle Schulen waren gut, der ständige Wechsel schwierig. Um für mehr Kontinuität im Schulalltag zu sorgen, bildeten die Schaustellerkollegen schließlich Fahrgemeinschaften und brachten ihre Kinder zum Beispiel vom Hamburger Dom jeden Morgen zu ihren Schulen im Landkreis Lüneburg. „Alle Kinder waren im verschiedenen Alter und in verschiedenen Schulen”, erinnert sich Peggy Voß, die ab der 7. Klasse wieder fest in Adendorf zur Schule ging. Auch wenn ihre Kinder ab Juni wahrscheinlich wieder eingeschränkt zur Schule gehen können, wird für Familie Voß noch lange nichts wieder normal sein. „Wir waren die ersten, die eingesperrt wurden und sind die letzten, die freigelassen werden”, meint Paul Voß schmunzelnd. Ihm ist bewusst, dass es hätte schlimmer kommen können: „Wir haben hier trotz allem nichts auszustehen. Wir können viel raus, alle machen viel Sport, und es ist für uns keine Umstellung, immer zusammen zu sein.” (JVE)

Wenn die Kirmes stillsteht
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