Familie Grigoleit lebt auf einem Hausboot an der Ilmenaumündung
Was für viele ein romantisch verklärter Traum ist, war für sie eine Notlösung: Jill und Ole Grigoleit (beide 33) leben mit ihren zwei Kindern auf einem Hausboot im Stöckter Hafen. Heute können sie es sich gar nicht mehr anders vorstellen. Ihre Geschichte beginnt wie die von Tausenden jungen Leuten in der Großstadt. Nach dem Studium wollten Jill und Ole Grigoleit in Hamburg zusammenziehen, doch die Wohnungssuche war mehr als schwierig. Ohne Arbeitsverträge hatte das junge Paar keine Chancen, sich gegen die zahlreichen anderen Bewerber durchzusetzen. Auch ein Immobilienkauf platzte im letzten Moment. Rückblickend war es wohl Oles Mutter, die das Wort „Hausboot“ zum ersten Mal in den Mund nahm. Bis dahin hatte das Paar nicht davon geträumt. „Ich dachte immer, ein Hausboot ist klein, eng, wacklig, ungemütlich und feucht“, sagt Jill. Jedenfalls beschloss Ole, für sich und Jill einfach ein Zuhause zu bauen, wenn auf dem konventionellen Wege keines zu finden ist. Über Ebay erstand er den Rumpf einer alten Schute, Baujahr 1933, und zahlte dafür gut 6.000 Euro. „Dann gab es kein Zurück mehr“, so Jill. „Wir hatten kein Dach mehr über dem Kopf.“ Nach dem Kauf des ziemlich verrotteten Schiffsrumpfes im Sommer 2011 machte sich Ole – der über viel handwerkliches Geschick, aber auch über eine Ausbildung als Schiffsmechaniker verfügt – daran, die alte Schute abzureißen und ihr Hausboot aufzubauen. Drei Monate lang sägte und schweißte er, verlegte Leitungen und Holzdielen. Um Geld zu sparen, verwendete er viele gebrauchte Materialien. Die Fenster stammten aus einer Ruine, ebenso die Bodendielen für die Wohnräume.
Durch den Schnee zur Hafendusche
Ole baute das Boot in einer Halle im Harburger Hafen, wo es auch zunächst liegen sollte. Jill arbeitete in Hamburg als Redakteurin, Ole selbstständig als Messebauer. Er musste sich ranhalten, bevor der Winter kam. „Wir haben das Boot im August gekauft und sind im November eingezogen“, erinnert sich Ole. „Das Dach war drauf, und der Regen begann.“ Als Jill und Ole in das Hausboot zogen, war es noch lange nicht fertig, und auch Möbel hatten sie kaum mitgebracht. „Wir hatten ein Bett und einen Kamin, aber noch keine Dusche“, erzählt Jill. „Im Winter 2011 bin ich morgens durch den Schnee zur Hafendusche gestapft, bevor ich zum Büro gefahren bin.“ Zwei Jahre lag ihr Hausboot, an dem Ole ständig weiterbaute, im Harburger Hafen. Doch das Paar suchte einen schöneren Liegeplatz – kein leichtes Unterfangen. Da die Liegegebühren nachder Größe des Bootes berechnet werden, gab es für ein Hausboot mit hundert Quadratmetern Wohnfläche keinen bezahlbaren Platz. Die perfekte Lösung fanden Jill und Ole im Winsener Ortsteil Stöckte. Hier wurde ein Nachfolger für den Hafenmeister gesucht, der aus Altersgründen den Hafen abgeben wollte, der in Privathand war. „Das war ein unglaubliches Glück und ein absoluter Zufall“, sagt Jill. Ole musste sich als Mittzwanziger erst vor dem erfahrenen Hafenmeister beweisen, bevor ihm die Position zugesagt wurde. Für die Grigoleits bedeutete das: Sie kauften den gesamten Stöckter Hafen. „Andere kaufen sich ein Haus, wir haben einen Hafen gekauft“, erklärt Jill schmunzelnd. Das bedeutete für das Paar gleichzeitig die Übernahme eines Betriebs mit Kundenstamm, der Liegegebühren aus rund 40 Liegeplätzen einbringt.
Zu dem Hafen gehören außerdem 6.000 Quadratmeter Land und eine Werkstatt, die in Schuss gehalten werden müssen. „Das macht nur Sinn für uns, weil wir hier mietfrei wohnen“, so Ole.
Mit Hausboot bekommt man den Hippie-Stempel
Im Frühjahr 2013 zogen Jill und Ole an den Stöckter Hafen, der ihnen ein Jahr später tatsächlich gehören sollte. Bis dahin hatten sie auch in Stöckte Liegegebühren zahlen müssen. Im Sommer 2014 wurde ihre erste Tochter Line geboren, zwei Jahre später Tochter Morlin. In Stöckte hatten Jill und Ole das erste Mal das Gefühl, angekommen zu sein. Auf dem Hausboot zu leben ist wie aufs Land zu ziehen – die Natur beginnt unter dem Fenster, der nächste Nachbar ist in einiger Entfernung. „Für mich war immer klar, mit Kindern will ich aufs Land ziehen“, erklärt Jill. Auch wenn sie noch viele Freunde in Hamburg hat, möchte sie nicht mit deren Leben tauschen. Sie fühlt sich im Ort gut aufgenommen. „Wir sind hier superschnell bekannt geworden“, meint Ole. „Natürlich wird man erst mal skeptisch beäugt, es waren alle neugierig. Mit Hausboot bekommt man ja einen Hippie-Stempel.“ Bei den Winsener Behörden ist Ole nur der „Hausboot-Heini“, doch er sieht seinen Bekanntheitsgrad dort als Vorteil. Nach fünf Jahren am Stöckter Hafen haben sich die Grigoleits gut eingerichtet. Als zweites Standbein hat Ole inzwischen ein weiteres Hausboot mit 40 Quadratmetern Wohnfläche gebaut, das sie als Feriendomizil vermieten. Seit einem Fernsehbericht über die Familie wird das Hausboot regelmäßig angemietet – obwohl es gerade erst fertig gestellt wurde. Bei ihrem neuen Ferien-Hausboot hat Ole vieles anders gemacht als bei ihrem eigenen Hausboot. Würde er es heute bauen, würde er alles anders machen. „Am liebsten würde ich es noch mal abreißen“, sagt der 33-Jährige. Ihr Hausboot hat außer der Haustür nur zwei weitere Türen – zum Bad und zum Kinderzimmer. Ihr Schlafzimmer ist ein Durchgangszimmer im Obergeschoss, das Bad am Ende des Wohnraums im Erdgeschoss lässt es nicht zu, weitere Wände einzuziehen, ohne noch mehr Durchgangszimmer zu schaffen. Die Fenster müssten erneuert werden, die Isolierung ist dürftig. „Es rächt sich jetzt, dass wir beim Bau so viel Geld gespart haben.“ Geheizt wird ausschließlich mit Pelletofen, während das Ferien-Hausboot über eine komfortable Fußbodenheizung verfügt.
Wunsch nach mehr Abgeschiedenheit
Der Alltag im Hausboot ist für Familie Grigoleit nicht viel anders als an Land. Es gibt fließendes Wasser und Strom, auch wenn die Wasserleitungen durch Frost und Tidenhub im Hafen immer wieder leiden. Ole schafft es kaum, die ständig auftauchenden Schwachstellen an ihrem Hausboot auszubessern, denn seine Arbeit als Hafenmeister fordert ihn sieben Tage die Woche rund um die Uhr. Während an anderen Häfen der Hafenmeister nur bedingt greifbar ist, wohnt Ole direkt auf dem Gelände – Fluch und Segen zugleich. Privatsphäre hat die Familie kaum, einige Bootsbesitzer sehen ihr Haus eher als Vereinshaus denn als Privatunterkunft. Jill und Ole haben einen guten Kontakt zu den Bootseignern, doch manchmal wünschen sie sich mehr Abgeschiedenheit. „Vor kurzem waren wir ein Wochenende am Stover Strand campen, um mal unter uns zu sein“, erzählt Jill. Die zweifache Mutter hat ihre Arbeit in Hamburg aufgegeben und kümmert sich nun um die Kinder, die Ferienhausvermietung und das Marketing drumherum. Sie kann das Leben auf dem Hausboot mehr genießen als Ole, der manchmal in Arbeit erstickt. Ihre Kinder kennen nur ein Leben auf dem Hausboot, die kleine Morlin ist sogar auf dem Boot geboren. „Bei Line hat es gedauert, bis sie realisiert hat, dass sie anders lebt“, erzählt die Mutter der Vierjährigen. Auch wenn ihre Tochter manchmal den Wunsch äußert, wie alle Anderen in einem Haus zu wohnen, fehlt es ihr am Stöckter Hafen an nichts – im Gegenteil: Die Mädchen haben ein großes Kinderzimmer, an Land gibt es einen großen Spielplatz neben der Terrasse mit Hafenblick, und allein das Hafengelände ist riesig. Die Grigoleits erziehen ihre Kinder zu Respekt vor dem Wasser. Auf der Brücke zum Hausboot müssen die Kinder immer an der Hand gehen, auf Booten – von denen die Familie so einige besitzt – wird stets eine Schwimmweste getragen, vom Ufer müssen sie Abstand nehmen. „Wir sind uns der erhöhten Gefahr schon bewusst. Wir lassen unsere Kinder am Wasser nicht allein“, so Jill. „Wir machen uns eher Gedanken, wenn hier Kinder zu Besuch sind. Bei unseren Kindern habe ich mehr Angst in der Stadt. Aber jedes Kind wächst mit spezifischen Gefahren auf.“ Im Sommer herrscht Hochbetrieb am Stöckter Hafen. Zum Winter, wenn die Boote an Land gezogen werden, wird es für die Grigoleits etwas ruhiger. „Im Winter ist es hier auch schön, weil wir wieder mehr Zeit für uns haben“, meint Jill. Während Ole von geregelten Arbeitszeiten träumt, würde Jill gerne mal mit der Familie Urlaub machen. Doch der Kredit für den Hafen muss abbezahlt werden. „Der Hafen ist unser Haus – mit dem Unterschied, dass der Hafen Geld einbringt.“ Wenn Geld übrig ist, stecken sie es wieder in ihr Hausboot – ein ewiger Kreislauf. Auch wenn sich Jill und Ole in zehn Jahren nicht mehr in diesem Hausboot sehen, schätzen sie die kleinen Dinge, die man in einem Haus an Land nicht hat. „Ich kann es mir nicht mehr anders vorstellen“, meint Jill. „Schon der Blick aufs Wasser beim Aufwachen ist toll, oder wenn am Ufer Rehe stehen und trinken. Die Kinder füttern die Enten aus dem Fenster, und es gibt hier Graureiher und sogar Eisvögel.“ Die Mutter liebt das Leben mit den Gezeiten – sie richtet ihre Einkaufszeiten schon mal danach aus, wann die Brücke zum Haus nicht so steil ist, um die Einkäufe bequemer nach Hause zu bringen. „Wir sind von April bis Oktober draußen. Das ist ein Stück Freiheit, aber es gibt eben auch viel Arbeit. Aber das wäre mit einem normalen Haus sicher nicht anders.“ (JVE)