Cannabis-Wundermittel für Schwerkranke oder nur eine von vielen Therapieoptionen?
Denn ganz neu ist die Behandlung mit dem Rauschmittel nicht. Schon seit Jahren wird Cannabis in der Medizin bei verschiedenen Krankheiten eingesetzt. Einigen Substanzen wird eine krampflösende und schmerzlindernde Wirkung zugeschrieben. Bislang war dies aber immer mit hohen Kosten für die Patienten verbunden – und die Erlaubnis zum Erwerb von Cannabisprodukten gab es nur selten. Das ist es, was sich jetzt ändern soll. Cannabis wird unter anderem zur Behandlung von chronischen Schmerzen, Nervenschmerzen, bei grünem Star (Glaukom) zur Reduzierung des Augeninnendrucks, bei ADHS und dem Tourettesyndrom eingesetzt. Angewandt wird Cannabis auch gegen Übelkeit und zur Appetitsteigerung bei Krebs- und Aidspatienten, bei Rheuma sowie bei spastischen Schmerzen bei Multipler Sklerose. Verwendet werden dazu Cannabisextrakte, Cannabisblüten oder einzelne Cannabinoide – das sind Mittel auf Cannabisbasis. Mit der jetzt in Kraft tretenden Gesetzesänderung wird auch eine Begleitstudie begonnen, um weitere Erkenntnisse über die Wirkung von Cannabis zu gewinnen. Dazu übermitteln die Ärzte vorliegende etwa zu Diagnose, Therapie, Dosis und Nebenwirkungen anonymisiert an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Dadurch sollen auch Informationen zum langfristigen Gebrauch von Cannabis zu medizinischen Zwecken gesammelt werden. Die Teilnahme an der Studie ist verpflichtend für die Erstattung der Kosten durch die Gesetzliche Krankenversicherung.
Wie kommen die Patienten
an Cannabis?
Ein Arzt kann es auf Kosten der Krankenkassen verschreiben, wenn eine laut Gesetz „nicht ganz entfernt liegende Aussicht“ auf eine positive Wirkung besteht. Jedoch muss der Medizinische Dienst der Kassen die Cannabis-Therapie genehmigen. Für die Genehmigung hat die Institution nur drei bis fünf Tage Zeit. Noch ist es so, dass die Apotheken eine Genehmigung brauchen, wenn sie Cannabis verkaufen wollen. Das wird sich jedoch künftig wohl ändern. Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft in jeder Apotheke Cannabis verfügbar sein wird. Die Patienten gehen mit dem Rezept in die Apotheke und das Medikament wird dann beschafft werden, wenn es nicht vorrätig ist.
Wo kommt das in Apotheken erhältliche Cannabis her?
Die Überwachung des Anbaus übernimmt künftig das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Die Felder werden gut gesichert sein, damit keine Pflanzen vom Feld geklaut werden können. So wird gewährleistet, dass es nicht missbräuchlich verwendet werden kann. Bis es soweit ist, wird das Cannabis importiert – meistens aus den Niederlanden. Dort gibt es bereits eine staatliche Cannabisagentur, der Staat kontrolliert also die Qualität des Cannabis.
Cannabis kann Psychosen auslösen
Cannabis ist die am häufigsten konsumierte illegale Substanz in Deutschland. Rund zwei Millionen vor allem junger Menschen in Deutschland greifen nach Angaben der Drogenbeauftragten der Bundesregierung regelmäßig zum Joint. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene probieren den Rausch der Pflanze aus. Das Risiko, beim Konsum von Cannabis in eine Abhängigkeit zu geraten, besteht. Psychosoziale Faktoren können das Suchtpotential fördern. Nach Untersuchungen sind rund zehn Prozent der Kiffer in Deutschland süchtig. (RT)
„Die Freigabe ist kein Grund zu feiern!“
Interview mit Dr. Wolfgang Schwarz, Palliativmediziner und Geschäftsführer des St. Marianus-Hospizes in Bardowick
Wie stehen Sie zu „Cannabis auf Rezept“?
Dr. Schwarz: „Cannabis kann in einzelnen Fällen hilfreich sein. Wir haben schon vor 15 Jahren regelmäßig mit Cannabis gearbeitet. Dann aber festgestellt, dass es nur sehr selten nötig ist. Als Analgetikum eignet es sich gar nicht. Da haben wir bessere Medikamente zur Verfügung. Letztlich haben wir immer seltener Cannabis eingesetzt, da es keinen nennenswerten Vorteil anderen Medikamenten gegenüber brachte. Ich habe den Eindruck, dass es einzelne Patienten gibt, die früher schon gute Erfahrungen mit dem Wirkstoff gemacht haben und nicht mehr darauf verzichten wollen, also andere Medikamente ablehnen. Für solche Fälle konnte man schon immer den Rohstoff verordnen, wenngleich dieses umständlicher war. Insofern mag für diese Einzelfälle eine unkomplizierte Verordnung per BTM-Rezept eine Erleichterung darstellen. Wirklich dringend brauchen wir dieses Medikament jedoch nicht. Insofern ist die Freigabe kein sensationeller Fortschritt der Therapie. Erwähnenswert ist vielleicht noch die Indikation im Endstadium einer multiplen Sklerose-Erkrankung. Hier ist Cannabis unersetzlich und wirklich wichtig. Aber – dieses anerkennend – wurde schon vor Jahren der Wirkstoff als Nasenspray auf den Markt gebracht und ist seit langem verordnungsfähig.“
Cannabis soll gut gegen Übelkeit helfen, worunter z.B. Krebspatienten in der Chemotherapie leiden. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Dr. Schwarz: „Bei der Chemotherapie tritt oft Übelkeit als Begleitwirkung ein. Die Wirkung von Cannabis gegen Übelkeit ist gut, aber auch da gibt es intensiv wirkende andere Medikamente. Das gleiche gilt übrigens für die Anwendung zur Appetitanregung.“
Wie ist es mit der Palliativversorgung in Lüneburg bestellt. Erhalten Sie ausreichend Unterstützung?
Dr. Schwarz: „Die Strukturen der Palliativversorgung sind in der Region Lüneburg gut entwickelt worden. Für die schweren Fälle haben wir ein Palliativnetz, in dem 19 ausgebildete Palliativmediziner und entsprechend viele ausgebildete Pflegekräfte verschiedener Pflegedienste unter der Koordination von St. Marianus (www.marianus.de) ambulant versorgen. Dieses geschieht in enger Abstimmung mit dem stationären Krankenhausbereich (Palliativstation) und den beiden stationären Marianus-Hospizen. Diese Versorgung geschieht zusätzlich zur hausärztlichen Betreuung. Alle Kosten werden von den Krankenkassen übernommen. Selbstverständlich hat das Palliativnetz einen eigenen Notdienst, der Tag und Nacht die Patienten auch im Notfall versorgt. So können wir in 92 Prozent der Fälle eine erneute Krankenhauseinweisung verhindern. Leider gibt es immer noch Hausärzte, die auf die Unterstützung durch das Palliativnetz verzichten wollen. Das ist bedauerlich – vor allem für den Patienten und die Angehörigen. Der Gesetzgeber hat diese Versorgung für 10 bis 15 Prozent der Sterbenden vorgesehen. Die leichteren Fälle werden vom jeweiligen Hausarzt und Pflegediensten der häuslichen Krankenpflege versorgt. Hier kann die Qualität der Versorgung sehr unterschiedlich sein.“
Bringt das neue Hospiz- und Palliativgesetz (am 8. Dezember 2015 in Kraft getreten) eine Verbesserung der Versorgung?
Dr. Schwarz: „Inwieweit sich Versorgung dadurch spürbar für den Patienten verbessert, bleibt abzuwarten. Wir haben gelernt, dass das enge, koordinierte Zusammenspiel von Pflege, Arzt, Psychoonkologie und diversen anderen Berufsgruppen gesteuert durch eine kompetente Koordinationszentrale den Patienten und Angehörigen nicht nur den Verbleib in der Häuslichkeit bis zum Tode ermöglicht, sondern vor allem auch die Sicherheit gibt, dass dieses auch ausgehalten werden kann. Wir wünschen uns allenfalls eine engere Zusammenarbeit mit manchen Hausärzten. Die meisten jedoch haben mittlerweile erkannt, dass das Netz sie bei der Versorgung effektiv unterstützen kann und für alle einen großen Vorteil bietet.“ (RT)