Nimmt häusliche Gewalt wegen Corona zu oder doch nicht? Viele Opfer haben offenbar Angst, sich zu melden …
Werden der Lockdown und die Corona-Quarantäne zu mehr häuslicher Gewalt führen? Viele Psychologen, Politiker, aber auch Polizei und der Opferschutzverein „Weisser Ring“ haben zu Beginn der Virus-Beschränkungen einen signifikanten Anstieg prophezeit.
Stressfaktoren steigen – Aggressionen nehmen zu
„Die Corona-Krise zwang und zwingt die Menschen weitgehend, in der Familie zu bleiben, hinzu kommen Stressfaktoren wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit. Diese Spannung kann sich ganz schnell in Gewalt entladen“, warnte Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des Weissen Rings. Zumindest die Rückmeldungen aus den 550 bundesweiten Jugendämtern scheinen dieses „Horrorszenario“ jedoch nicht zu bestätigen. Noch nicht. „Aus den Ländern bekommen wir derzeit unterschiedliche Rückmeldungen. Es gibt ein Stadt-Land-Gefälle“, sagt Bundesfamilienministerin Franziska Giffey. In ländlichen Regionen, wo es mehr Möglichkeiten gebe rauszugehen und wo Menschen nicht so sehr auf engem Raum lebten, sei das Konfliktpotenzial nicht so hoch. Auch die Polizei Lüneburg meldet „eine aktuell ruhige Einsatzlage“. Das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) will sich zum Thema nur vorsichtig äußern: Bundesweit habe es im März keinen, in den ersten drei Aprilwochen etwa 20 Prozent mehr an Beratungskontakten gegeben. „Ob sich daraus ein stabiler Trend entwickelt, gilt abzuwarten und lässt sich derzeit schwer beurteilen“.
Hohe Dunkelziffer -befürchtet
Gewarnt wird allenthalben vor einer hohen Dunkelziffer. Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza ruft darum dazu auf, in diesen Wochen bei dem Thema „Häusliche Gewalt“ besonders wachsam zu sein. „Wir wissen nicht, was hinter den vielen geschlossenen Türen passiert. Umso wichtiger ist es, dass Nachbarn, Freunde und Verwandte jetzt ganz genau hinsehen und hören, was in ihrer unmittelbaren Nähe passiert“. Statistisch, also von den Behörden beziehungsweise der Polizei erfasst, wird knapp alle vier Minuten ein Mensch Opfer von Gewalt in den privaten vier Wänden. Das sind etwa 135.000 Fälle im Jahr. Tatsächlich sollen es aber mehr als eine Million sein. Und Corona könnte da jetzt noch einmal zu einer Verdopplung geführt haben. Verwiesen wird von Experten in diesem Zusammenhang sehr oft auf die Erfahrungen während der Weihnachtsfeiertage. Denn rund um das Fest der Liebe steige die häusliche Gewalt regelmäßig an, da Familien „deutlich mehr Zeit miteinander verbringen als üblich“.
Alarmsysteme beeinträchtigt oder blockiert
Gemeldet würde diese wiederkehrende weihnachtliche Gewalt aber erst sehr viel später, weil die meisten Alarmsysteme und Meldekanäle beeinträchtigt oder ganz blockiert seien – insbesondere für Kinder und Jugendliche: Ihre regelmäßige Begegnung mit und Beobachtung durch Lehrkräfte oder Kita-Personal entfällt. Generell sind zudem unbeobachtete Anrufe für Opfer dann auch seltener als sonst möglich, schließlich „hört der Feind mit…“
Barrieren durchbrechen
Eine ähnliche Situation, nur eben noch strikter, sei auch jetzt gegeben: Behördliche und freie Jugendhilfe seien zwar weiter mit den Familien in Kontakt, die dem Jugendamt bekannt sind, heißt es. Wenn es nun aber auch in anderen Haushalten zu Gewalt komme, stelle sich die Frage, ob wahrheitsgetreue Informationen darüber überhaupt bei der Jugendhilfe und anderen helfenden Institutionen ankommen. Wichtig sei es darum, so schnell wie nur möglich die Barrieren von drinnen nach draußen zu durchbrechen. Damit jeder auch wieder die Hilfe bekommt, die er benötigt. (RT)
Hilfe in der Not
Kinder- und Jugendliche, die Hilfe suchen, können sich an die deutschlandweite, kostenfreie Nummer 116 111 wenden. Für Mütter, Väter oder Großeltern gibt es die 0800 111 0550.
Die Opferhelferinnen und Opferhelfer des Weissen Rings sind täglich von 7 bis 22 Uhr unter der bundesweiten Rufnummer 116 006 erreichbar.
Beratungs- und Interventionsstelle Lüneburg: Tel. (0 41 31) 2 21 60 44
Weitere Informationen: gegen-gewalt-in-der-familie.de; www.opferhilfe.niedersachsen.de.
Zur Sensibilisierung für Taten in der Nachbarschaft hat die Koordinierungsstelle „Häusliche Gewalt“ beim Landespräventionsrat Niedersachsen im Justizministerium gemeinsam mit dem Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung Flyer und Poster entwickelt. Diese verdeutlichen, dass eine aufmerksame Nachbarschaft die beste Prävention ist. Und sie zeigen auf, was man tun kann, wenn man häusliche Gewalt in der Nachbarschaft bemerkt. Die Papierversion von Flyer und Poster können bei der Geschäftsstelle des Landespräventionsrates Niedersachsen bestellt werden (info@lpr.niedersachsen.de). Digital sind sie unter lpr.niedersachsen.de abrufbar.