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Cave-Syndrome: Wenn die Rückkehr zur Normalität zur Bedrohung wird…

DIe Sonne scheint, der Sommer ist da, fast überall wurden dank sinkender Infektionszahlen und voranschreitender Durchimpfung die Corona-Maßnahmen gelockert: Doch nicht alle Menschen atmen auf, einige bleiben skeptisch, scheuen nach wie vor menschliche Kontakte. Was kann helfen, wenn sogar das Zurück zum normalen Alltag Angst macht? Viele Experten haben immer wieder auf die psychischen Folgen der Corona-Krise aufmerksam gemacht. Diese wurden lange Zeit vernachlässigt, treten jetzt aber umso deutlicher hervor. Rund eineinhalb Jahre der Isolation haben Spuren bei vielen Menschen hinterlassen.

Erschöpfung und -Antriebslosigkeit als Warnzeichen

Bei einer Befragung deutscher Psychiater und Psychotherapeuten im Auftrag der Betriebskrankenkasse Pronova stellten 92 Prozent der befragten Fachärzte fest, dass sich die seelischen Leiden ihrer Patienten in diesem Jahr verstärkt haben. Das betrifft vor allem Symptome wie Nervosität, Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Bekommt man diese Symptome „nicht in den Griff“, können diese sich verselbstständigen, werden mächtiger. Es kommt zu Angstschüben, die bewusst oder unbewussst mit dem Virus verbunden werden. Was vor der Pandemie normal war, erscheint dann plötzlich befremdlich: Wie soll man sich begrüßen? Die Hand reichen oder gar umarmen? Bus oder Bahn fahren? Einfach wieder rausgehen, als wäre alles normal? Sich vielleicht sogar mit Freunden im Biergarten, Freibad oder bei einer Gartenparty treffen? Diese Vorstellung scheint für manche Menschen ein wahrer Albtraum zu sein. Auch Elke B. (51) aus Lüneburg hat mehrere Wochen ihre Wohnung kaum verlassen. Ihren Teilzeitjob konnte sie per Home-Office erledigen, in der kommenden Woche soll sie sich jedoch wie der im Büro einfinden und kann darum kaum noch schlafen, wie sie erzählt: „Ich traue dem ganzen einfach nicht, die Menschen sind viel zu unvorsichtig. Ich will mich nicht anstecken, habe seit Wochen meine Eltern nicht gesehen, meine Geschwister seit über einem Jahr nicht – und da soll ich jetzt einfach wieder an meinen Arbeitsplatz zurück? Das mache ich nicht, eher kündige ich.“ Die Angst, wieder in das frühere Leben vor der Corona-Pandemie zurückzukehren, bezeichnet man in der Medizin als sogenanntes „Cave Syndrome“ (auf deutsch „Höhlensyndrom“). Dabei haben Betroffene Probleme damit, sich an die neuen Freiheiten anzupassen, nehmen die wiedergekehrte Normalität als etwas „Bedrohliches“ wahr und schotten sich ab – wie in einer „Höhle“.

Anstieg an posttraumatischen Belastungs-störungen

Viele Psychologen überrascht die neue Angst vor dem Miteinander nicht. Forschende der University of British Columbia warnten bereits im Jahr 2020 vor psychischen Problemen wie Angststörungen oder Posttraumatischen Belas-tungsstörungen als Folge der Pandemie. Auch in der Psychiatrischen Klinik Lüneburg ist das „Cave-Syndrome“ nicht unbekannt. Besonders ängstliche Menschen, die dann vielleicht noch Schicksalsschläge treffen und die in der Corona-Zeit besonderen Stress-Situationen ausgesetzt waren, könnten nun zu Angsterkrankungen neigen. Dann würde sich die Angst vermutlich chronifizieren. Der Chef der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Asklepios Klinik Nord in Hamburg, Dr. Claas-Hinrich Lammers, spricht davon, dass den Menschen zu Beginn der Pandemie die sinnvolle Angst vor dem Virus erst antrainiert werden musste. Diese antrainierte Angst jedoch kann bei manchen Menschen in einen Automatismus übergehen, und den kann man dann so schnell nicht wieder ablegen.

Ab wann sollten Betroffene sich helfen lassen?

Wer sich einfach nur unsicher fühlt, dass bei der ersten unmaskierten persönlichen Begegnung mit Bekannten oder Freunden das Gesicht entgleitet, muss keinen Arzt aufsuchen… Dieses Gefühl wird bald, vielleicht zu bald vorübergehen. Anders verhält es sich in Fällen wie dem von Elke B. Hier hilft eigentlich nur die rationale Beschäftigung mit der Einschätzung der Corona-Gefahrenlage, um diese Ängste zu besiegen. Klappt das nicht allein, sollte man sich immer ärztliche, psychologische oder psychiatrische Hilfe holen. Sonst steigt möglicherweise das Risiko, eine extreme Version des sozialen Rückzugs zu entwickeln (als Hikikomori bezeichnet). Hikikomori ist ein gesellschaftliches Phänomen, das sich in Japan ausbreitet. Oft beginnt die Form der gesteigerten Sozialphobie mit einigen wenigen Tagen, an denen sich die Betroffenen zuhause einschließen. Sie brauchen Zeit für sich, der Lärm der Welt ist ihnen schlicht zu laut. Doch es bleibt nicht bei Tagen. Über mehrere Monate, oft sogar viele Jahre hinweg igeln sie sich zuhause ein und schotten sich von der Außenwelt ab. Soziale Kontakte werden auf ein Minimum beschränkt und gehen in der Regel nicht über Chats im Internet hinaus. Viele Betroffene leiden irgendwann unter Einsamkeit und schlimms-ten Depressionsschüben. Wer Sorge vor der zurückkehrenden Normalität hat, sollte versuchen, auch das als „normal“ anzusehen, sagen Psychologen Es kann ja sogar etwas Schönes sein, wenn die zurückkehrende Normalität sich noch wie die Ausnahme anfühlt. Denn erst dann merkt man, was man in der Zeit vor der Pandemie verschwendet hat an Gesten und Gefühlen, weil es so selbstverständlich war. (RT)

Kontakt:

Psychiatrische Klinik Lüneburg

Am Wienebütteler Weg 1 · 21339 Lüneburg

Tel. (0 41 31) 600

Angst essen Seele auf
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