Sport, Arbeit, Sex – nicht nur Drogen können abhängig machen
Nicht jeder Süchtige nimmt Drogen. Denn nicht jede Sucht ist mit der Einnahme von Drogen – also einem bestimmten Stoff – verbunden. Gefährlich können diese sogenannten Alltags- oder Verhaltenssüchte aber dennoch sein.
Sie trainieren bis zum Umfallen, auch wenn der Körper rebelliert. Shoppen, bis die Kreditkarte glüht. Lassen sich immer neue Tattoos stechen. Haben einen Putzfimmel, der sie täglich mehrfach zum Staubsauger greifen lässt.
Ihre Symptome ähneln denen anderer Süchtiger: Aggression, Unruhe, Nervosität. Aber sie sind nicht süchtig nach Alkohol, Heroin oder Koks. Sie sind süchtig nach Sport, nach den neuesten Modeaccessoires, dem Kick der Nadel unter der Haut oder den staubfreien vier Wänden – einem Reinlichkeitsideal, das immer unerreichbar bleibt.
Ab wann genau in solchen Fällen von Sucht zu sprechen ist, wird noch diskutiert. Die Fachliteratur dazu ist nicht besonders umfangreich. Von den nichtstofflichen Süchten kann man aber ebenso abhängig werden wie von den stofflichen.
Der Abhängige braucht wie bei den stofflichen Drogen das Hochgefühl durch das Übermaß. Und er versucht das Hochgefühl immer wieder herzustellen. Je öfter er das tut, desto tiefer gerät er in die Abhängigkeit.
Wissenschaftler gehen heutzutage davon aus, dass Belohungsmechanismen im Gehirn eine wichtige Rolle spielen. Etwas vereinfacht erklärt wird die Abhängigkeit von einem Stoff oder einem Verhalten durch eine Fehlsteuerung des Belohnungssystems im Gehirn hervorgerufen.
Dinge, die wir Menschen als sehr positiv wahrnehmen – ein Lächeln oder Lob, gutes Essen oder Einkaufen – führen dazu, dass im Gehirn vermehrt Hormone wie Dopamin ausgeschüttet werden, die uns Glück oder Euphorie empfinden lassen.
Alkohol und anderen Rauschmittel können ebenfalls zu einer solchen Hormonausschüttung führen. Aber eben auch eine besondere Vorstellung, wie eine blitzsaubere Wohnung oder ein schöner, gestählter Körper auszusehen hat. Wird das, was uns so glücklich macht, regelmäßig „konsumiert“, kann sich der Körper an den erhöhten Hormonspiegel gewöhnen und das hormonelle Gleichgewicht im Gehirn verschiebt sich.
Zusätzlich sinkt aber auch die körpereigene Hormonproduktion, was die Stimmungslage schnell wieder verschlechtert. Und manchmal sogar noch tiefer sinken lässt, als zuvor noch. Der Drang, das Suchtmittel dann wieder zu konsumieren, wird so immer stärker. Das Gehirn verlangt nach mehr und das in immer kürzeren Abständen.
Die Dosis muss erhöht werden. Bei der Arbeitssucht wird das Arbeitspensum erhöht. Bei der Sexsucht tritt an die Stelle des täglichen Softpornos die harte Pornografie. Bei der Putzsucht wird der Reinlichkeitsdrang immer extremer. Das Leben konzentriert sich immer mehr auf den reizauslösenden Stimulus. Andere Interessen treten zurück, die Auslösung des Reizes wird immer wichtiger. Es folgt über kurz oder lang fast immer der gesellschaftliche Abstieg, die Zerstörung der Partnerschaft oder Familie. Die Betroffenen selbst erkennen das Unglück, in das sie unweigerlich rennen, oft zu spät. Oder wollen es nicht erkennen.
„Zum Arzt gehen, weil ich gerne einkaufen ging? Das wäre mir lange nicht in den Sinn gekommen“, sagt Sandra P. (44). Die Supermarkt-Angestellte aus Lüneburg hat lange verdrängt, dass sie kaufsüchtig war. Sie wollte es sich nicht eingestehen, auch als ihr Konto längst leergeräumt war und sie Freunde um Geld bat, um weiter shoppen zu können.
„Das Herz schlägt bis zum Kopf, man kommt ins Schwitzen, der Körper schmerzt, es ist alles wie benebelt, wie in Trance“, beschreibt sie ihre früheren Gefühle beim Einkaufen. Eine gute Freundin konnte sie schließlich doch überreden, einen Psychologen aufzusuchen.
Der diagnostizierte ziemlich schnell eine schwere Form der „Oniomanie“ – das zwanghafte, episodisches Kaufen von Waren. Sandra P.: „Mir ging es gar nicht mehr um die Dinge an sich, die habe ich zuletzt vor lauter Schuld- und Schamgefühlen sogar versteckt, sondern um die Kaufhandlung an sich. Um den Kick.“
Diesen Kick, den Außenstehende kaum nachvollziehen können, beschreibt auch Sieglinde Zimmer-Fiene in ihrem Buch „Mein Leben durch die Hölle“ wie einen Trip wie unter Drogen, ein Höhenflug, der glücklich macht. Der Absturz wie nach jedem Drogentrip kommt kurz darauf: Reue, Selbsthass, Depressionen. Aber die schlechten Gefühle lassen sich mit der nächsten Kauforgie bekämpfen – auf die wieder der Absturz folgt. Oft so tief, dass viele Kaufsüchtige schon mal an Selbstmord denken.
Rund 800.000 Menschen in Deutschland leiden unter unterschiedlichen Formen von Kaufsucht, wie die Techniker Krankenkasse (TK) Niedersachsen unter Berufung auf eine Untersuchung der Fachhochschule Ludwigshafen mitteilt. Immerhin ca. 7 Millionen sind es, die insgesamt an nicht stoffgebunden Süchten leiden sollen, also u.a. auch an Sport-, Fitness-, Sex-, Handy- und Arbeitssucht. Schlimme Fälle enden oft auch im Suizid.
Wer nicht bereit ist, sein Leben grundsätzlich zu ändern, kann sich aus dem Teufelskreislauf nicht befreien. Doch das ist umso schwieriger, je schwerwiegender die psychischen Defizite sind – hinter dem „abnormen“ Verhalten also tiefere Sehnsüchte stecken. Beispielsweise der Wunsch nach erhöhter Körperkontrolle bei der sogenannten „Tattoo-Sucht“. Wenn das schmerzhafte Anbringen von Körperschmuck nur noch als Beweis hoher Selbstbeherrschung gilt, ist das ein Indiz, dass ein seelischer Notstand vorliegt. Vereinfacht gesagt: Ist die Seele in Unordnung, wächst der Wunsch, wenigstens den Körper unter Kontrolle zu haben.
Der kaufsüchtigen Sandra P. aus Lüneburg hat eine Selbsthilfegruppe geholfen. Dafür fuhr sie über ein Jahr zweimal monatlich nach Hannover“: „Es hat sich gelohnt, ich habe mein Leben im Begriff, arbeite wieder und zahle meine Schulden ab. Das alles ging erst, nachdem ich mir eingestanden hatte, süchtig zu sein und mit dem Shoppingwahn etwas kompensieren wollte. Es war fehlendes Selbstwertgefühl – erst als ich das verstanden hatte, ging es mir besser.“ (RT)
Kennzeichen einer Verhaltenssucht
- Auffälliges Verhalten über einen längeren Zeitraum:Betroffene verhalten sich mind. zwölf Monate in einer exzessiven, von der Norm und über das Maß hinaus (z.B. Häufigkeit) abweichenden Form.
- Kontrollverlust:Es ist keine Kontrolle hinsichtlich der Dauer, Intensität und des Risikos möglich.
- Toleranzentwicklung:Das Suchtverhalten muss häufiger und intensiver durchgeführt werden, um den gewünschten Effekt zu erhalten.
- Unwiderstehliches Verlangen:Es besteht ein unbedingter Drang, das Verhalten ausüben zu wollen/zu müssen.
- Eingeengtes Verhaltensmuster:Das exzessive Suchtverhalten dominiert das Denken, Fühlen und Verhalten.
- Aufrechterhaltung des Suchtverhaltens trotz schädlicher Folgen:Die Ausübung des Suchtverhaltens wird trotz negativer gesundheitlicher, beruflicher und sozialer Folgen in inadäquatem Ausmaß aufrecht erhalten.
- Belohnung:Das exzessive Verhalten wird (anfänglich) als unmittelbar belohnend empfunden.
- Emotions- und stressregulierende Funktion:Das Verhalten wird vorrangig eingesetzt, um die Stimmung/Gefühle zu regulieren oder Stresserleben zu reduzieren.
- Irrationale, verzerrte Wahrnehmung:Das exzessive Verhalten wird bezüglich verschiedener Bereiche nicht in realistischem Ausmaß wahrgenommen.
(Quelle: Merkmale der Verhaltenssucht, Grüsser & C.N. Thalemann, 2006)